© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

"Wer widerspricht, fliegt raus"
Der ehemalige Jugendevangelist und DDR-Widerstands-Pfarrer Theo Lehmann über den Evangelischen Kirchentag in Hannover
Moritz Schwarz

Herr Pfarrer, Sie gelten als einer der erfolgreichsten "Widerstands-Pfarrer" in der damaligen DDR. Kein anderer hat damals mit dem Aufruf, Jesus und nicht den Kommunismus an erste Stelle zu setzen, mehr Jugendliche erreicht als Sie.

Lehmann: Ich weiß nicht, ob ich den Ehrentitel "Widerstands-Priester" annehmen kann, zwar hat die Stasi versucht, mich loszuwerden, aber ich bin nie verhaftet worden.

Auch zum Beispiel Pfarrer Schorlemmer wurde nie verhaftet. - Die Stasi ermittelte gegen Sie wegen "staatsgefährdender Hetze".

Lehmann: Mich hat Gott vor dem Zugriff dieser Krake bewahrt.

Sie haben als Jugendevangelist Predigten vor bis zu 5.000 Jugendlichen gehalten. Keiner hat in der DDR vor mehr Menschen gepredigt.

Lehmann: Mir ging es darum, die Bibel glaubenstreu auszulegen. Die SED hat schnell gemerkt, daß das der springende Punkt ist: Denn die daraus resultierende Forderung, "Du mußt Dein Leben Gott ganz ausliefern!" kollidiert natürlich mit dem Anspruch einer totalitären Weltanschauung wie dem Kommunismus. Mir ging es immer um den Glauben und nicht um die Politik, ich habe aber gelernt: Je biblischer man predigt, desto politischer ist man.

Obwohl Sie sich als Konservativer verstehen, hatten Sie mit Abstand den meisten Erfolg bei Jugendlichen - landläufig würde man genau das Gegenteil vermuten.

Lehmann: Anbiederei an den Zeitgeist ist nicht meine Art. Jugendliche suchen nicht Leitbilder, die modern sind, sondern die authentisch sind - denken Sie an Papst Johannes Paul II.

Allerdings entsprachen Ihre Jugendgottesdienste auf den ersten Blick nicht unbedingt konservativen Vorstellungen.

Lehmann: Ich habe vormittags die gleiche Predigt gehalten wie später am Nachmittag. Morgens aber trug ich Talar, es spielte die Orgel, und ich habe "Sie" zu den Gottesdienstbesuchern gesagt. Nachmittags trug ich Alltagskleidung, es spielte ein Liedermacher mit Gitarre, und ich habe "Du" gesagt. Aber trotz anderer Verpackung: gleicher Inhalt!

"Gottesdienst statt Selbsterfahrungsexperimente"

Haben Sie damit aber nicht dem heute - nicht nur in Jugendgottesdiensten - verbreiteten "Ringelpiez mit Anfassen" mit den Weg geebnet?

Lehmann: Nein, denn im Mittelpunkt stand immer die Predigt, nicht das Event. - Aber am Morgen kamen eben nur 150 Besucher, am Nachmittag 1.500 und mehr.

Gerade weil jeweils derselbe "Inhalt" geboten wurde: Hat Sie der Erfolg der Nachmittagsgottesdienste nicht doch etwas mißtrauisch gemacht?

Lehmann: Die Besucher kamen ganz bestimmt nicht nur wegen der Verpackung, sie haben einfach die Form ausgewählt, in der sie die Inhalte lieber präsentiert bekommen wollten. Auch nach der Wende 1989, als aus dem Westen kommend viel "spektakulärere" Formen von Gottesdiensten bei uns Einzug hielten, kamen weiterhin Tausende von Besuchern zu meinen Predigten.

Wie unterschieden sich Ihre Gottesdienste von dem, was viele "progressive" Pfarrer heutzutage in ihren Kirchen veranstalten?

Lehmann: Meine Jugendgottesdienste waren trotz ihrer unkonventionellen Form immer ganz und gar Gottesdienste. Da gab es keine Sondereinlagen wie Selbsterfahrungsexperimente, Disko in der Kirche oder Tiergottesdienste, sondern: Lied, Predigt, Segen, Zeugnis, Gebet und Verkündigung.

"Zahllose Veranstaltungen im krassen Widerspruch zur Bibel"

Vom 25. bis zum 29. Mai findet der evangelische Kirchentag 2005 in Hannover statt (siehe Bericht Seite 4), der - liest man das Programm - einen deutlich "progressiven" Charakter haben wird. Die Veranstalter erwarten Zigtausende von jugendlichen Besuchern.

Lehmann: Mit Speck fängt man eben Mäuse. Aber kann es der Kirche darum gehen? Man muß die Jugendlichen nicht nur für den Kirchentag begeistern, sondern für Gott: Es geht um die Herzen der Menschen, nicht um nur um ihre Aufmerksamkeit! Tatsächlich sind es - trotz aller Progressivität auf dem Kirchentagen - vor allem die konservativen Gemeinden, die heute überhaupt noch wachsen. Mein Entschluß, Pfarrer zu werden, ist gefallen, als ich 1951 den Kirchentag in Berlin besuchte. Damals haben dort noch geistesmächtige Gottesmänner die Bibel ausgelegt.

Der Kirchentag hat sich also grundlegend gewandelt?

Lehmann: Grundlegend! Damals bot der Kirchentag eine christliche Richtungsweisung - heute das genaue Gegenteil: Dort dreht sich auf einem "Markt der Möglichkeiten" alles bunt durcheinander. Alles ist möglich, alles kann man einmal ausprobieren!

Sie spielen auf Veranstaltungen mit Gästen wie Michel Friedman oder 2003 in Berlin mit dem Dalai Lama an?

Lehmann: Ich frage mich, was soll jemand, der sich mit Prostituierten abgibt, uns Christen sagen? Allerdings wird Friedman nach Protesten von "der Basis" nun doch nicht kommen. Und Vertreter anderer Religionen wie zum Beispiel den Dalai Lama auf einem Kirchentag "sein Angebot" einmal vorstellen zu lassen, ist doch absurd. Ich spreche aber beileibe nicht nur davon - ich spreche von zahllosen Veranstaltungen, die in krassem Widerspruch zum Wort der Bibel stehen.

Sie irren, nicht alles wird auf dem Kirchentag angeboten, zum Beispiel darf das Missionswerk Beit Sar Shalom, das sich der Christianisierung von Juden widmet, nicht auftreten.

Lehmann: Die am lautesten für Toleranz werben, sind eben oft die Intolerantesten! Die Botschaft, die mitgeteilt werden soll, ist klar: Die Religionen sind alle gleich. Wer da widerspricht, fliegt raus.

Wenn sich das - evangelische - Christentum nicht mehr als einzigartig betrachtet, ist das dann nicht im Grunde eine Bankrotterklärung?

Lehmann: Dem kann ich nicht widersprechen. Kern der Religion ist die Frage, wie wird der Mensch erlöst und wie kommt er zu Gott. Für mich ist Ökumene - und ich spreche dabei vom Dialog der Religionen, nicht vom Dialog der Konfessionen, etwa zwischen katholischen und evangelischen Christen, denn der hat mit Ökumene gar nichts zu tun - nur dann akzeptabel, wenn die Wahrheitsfrage im Vordergrund steht und nicht das Streben nach Harmonie unter Zurückdrängung der Glaubensinhalte. Aber man muß feststellen, daß die religiösen Wahrheiten vielen Funktionsträgern in der Kirche ebenso wie großen Teilen des Kirchenvolks gleichgültig sind. Die Menschen denken nicht daran, daß es um ihr Seelenheil geht: Da kann man mit der Wahrheitsfrage nicht spielen.

Das klingt, als sei das Christentum am Ende?

Lehmann: Das Christentum sicher nicht, das hat schon ganz andere Krisen überlebt. Viele vergessen aber, die evangelische Kirche ist nicht das Christentum und Kirchen können durchaus zugrunde gerichtet werden und verschwinden. Wir erleben in der evangelischen Kirche eine Verschiebung von der Religion zur Moral. Selbst evangelische Christen glauben oft, wenn der Mensch nur ein bißchen gut ist - alten Damen über die Straße hilft -, dann sei das schon christlicher Glaube. Christentum hat aber vor allem etwas mit Gott zu tun. Wenn das Christentum mit seinem einmaligen Heilsversprechen zur reinen Morallehre wird, ist es nur noch eine Weltanschauung unter vielen. Es gibt allerdings bei vielen Gläubigen doch auch heute noch ein Fundament ehrlichen Glaubens, das sich nicht nur in einer Moral erschöpft.

Papst Johannes Paul II. hat immer wieder gewarnt, daß mit dem Ende des Kommunismus in Osteueropa die Gefahr für das Christentum noch nicht vorrüber sei.

Lehmann: Der westliche Lebensstil kommt der Neigung des Menschen zur Unverbindlichkeit sehr entgegen. Das ist in gewisser Weise bedrohlicher als der Kommunismus. Der Kommunismus war ein Druck von außen, und er hat von jedem ein Bekenntnis verlangt: dafür oder dagegen. Der westliche Lebensstil will gerade kein Bekenntnis. Die Gefahr kommt von innen, denn er spricht in uns an, was uns in gewissem Sinne charakterlos macht: Heute werden wir also nicht mehr unterdrückt, sondern korrumpiert.

Dem müßte gerade die Kirche gegensteuern!

Lehmann: Die evangelische Kirche ist überwiegend nicht mehr bereit, Forderungen an die Menschen zu stellen. Sie richtet sich statt dessen lieber nach deren Wünschen. Die Jugendlichen sind heute nicht mehr gewöhnt, Verbindlichkeiten einzugehen. Sie können sich nicht für einen Beruf entscheiden, später nicht für einen Lebenspartner - und ebenso scheuen sie vor einer verbindlichen Religion zurück. Da ist ein "Christentum", das nichts von ihnen fordert, natürlich sehr angenehm. Christentum aber bedeutet, ein verbindliches Gottesverhältnis zu haben!

"Bibeltreue ist für viele heute eine Art der Unbarmherzigkeit"

Das heißt, die Menschen verstehen gar nicht mehr die "Grammatik" der Religion?

Lehmann: Heute heißt es: "Ich schau mal bloß, ich mach mal ein bißchen mit, Du hast recht, ich habe recht und tschüß!" - Oder warum zum Beispiel werden immer öfter englische Lieder in Jugendgottesdiensten gesungen? Weil das ein Moment der Unverbindlichkeit ist und den junge Leuten gefällt. Das Englische ist als Fremdsprache aber nicht die Sprache des Herzens. Es ist die Sprache der Werbung und der Jugendevents - und fördert natürlich den Eindruck, bei einer unverbindlichen Werbeveranstaltung dabei zu sein.

Sie sprechen von Unverbindlichkeit, andere würden es "Toleranz" nennen.

Lehmann: Toleranz bedeutet, den anderen - auch wenn es mir schwerfällt - in Respekt zu ertragen. Diese Tatsache ist heute kaum noch jemandem bekannt. Die Menschen verbinden mit "tolerant" eher Attribute wie "leicht", "lässig" und "angenehm". - Und gegenüber dem, was dann nicht mehr so "leicht, lässig und angenehm" daherkommt, ist man dann sehr schnell sehr intolerant. Dieser verharmlosende "Toleranz"-Begriff fördert also in Wirklichkeit nur die Gleichgültigkeit, ebenso wie die Intoleranz.

Zum Beispiel?

Lehmann: Die Forderung nach Bibeltreue ist heute für viele ein Akt der Unbarmherzigkeit. Ich habe darüber schon den allerheftigsten Streit in der Kirche ausgetragen. Die Vorwürfe, denen ich mich ausgesetzt sehe, reichen dann von "kein Verständnis für die Zeit", bis zu "keine Liebe für die Menschen".

Was entgegnen Sie?

Lehmann: Daß ich mich als Pfarrer weder an der "Realität" noch am Geschmack von 16jährigen zu orientieren habe, sondern an der Wahrheit der Bibel und den Geboten Gottes. Besonders bizarr ist es, wenn man das auch noch einem katholischen Priester erklären muß.

Bitte?

Lehmann: Er kritisierte mich, weil ich sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe predige.

Wie auch immer man dazu steht, ist er als katholischer Priester nicht dazu verpflichtet, diese Lehre auch zu vertreten?

Lehmann: Statt dessen machte er mir die heftigsten Vorwürfe und teilte mir mit, daß er sehr wohl "Sex vor der Ehe" predige.

Der evangelische Fernsehpfarrer Jürgen Fliege - eingeladen auf dem Kirchentag - leugnet gar die Erlösung durch den Kreuzestod Christi.

Lehmann: Es ist unverständlich: Was hat das noch mit Christentum zu tun? Herr Fliege lehnt das Zentrum der christlichen Botschaft ab, das kann ein Pfarrer nicht machen!

Der evangelische Theologe Matthias Kroeger leugnet gar, daß es ein Jenseits gibt.

Lehmann: Im Grunde müßte sich die Kirche von solchen Leuten trennen.

Warum tut sie es nicht?

Lehmann: Vermutlich weil sie sich davor fürchtet, für eine solche Maßnahme schlechte Presse zu bekommen, vielleicht sogar angegriffen zu werden. Aber eine Kirche, die die Auseinandersetzung, ja schon das Grollen des Zeitgeists fürchtet, was ist die noch wert? - Gott sei Dank aber sind diese Leute nicht die Kirche, sondern nur ein Teil von ihr. Die Kirche hat schon ganz andere "Eintagsfliegen" überlebt.

 

Pfarrer Dr. Theo Lehmann war der erfolgreichste Jugendpfarrer der DDR, er predigte vor bis zu 5.000 Jugendlichen. Bereits in den siebziger Jahren geriet er in heftigen Konflikt mit SED und Staatssicherheit, die sein privates Umfeld infiltrierten und versuchten, ihn mittels Repressionen außer Landes zu drängen. Als einer derjenigen, die "die friedliche Revolution 1989 erst möglich gemacht haben", erhielt er 2003 die Verfassungsmedaille des Freistaats Sachsen. Geboren wurde der spätere Chemnitzer Gemeindepfarrer und "reisende Jugendevangelist" 1934 in Dresden.

 

Foto: Besucher des Kirchentags 2001 in Frankfurt am Main: "Man muß die Jugendlichen nicht nur für den Kirchentag begeistern, sondern für Gott"

 

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