© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Irritierend anders
Bundespräsident: Ein Jahr nach seiner Wahl erweist sich Horst Köhler immer mehr als Staatsoberhaupt mit Langzeitwirkung
Thorsten Hinz

Gegen den Willen des Kanzlers wurde Horst Köhler vor einem Jahr, am 23. Mai 2004, zum Bundespräsidenten gewählt. Seitdem hat Gerhard Schröder keinen Grund, sich zu beklagen, ganz im Gegenteil, denn Köhlers Präsidentschaft hat eine unerwartete Dialektik entfaltet, die dem Kanzler zugute kommt. Köhler wird inzwischen von allen Bevölkerungsschichten als Stabilitätsanker der deutschen Politik empfunden. Der Präsident paßt auf, daß der Schaden, den eine unstete und inkompetente, mit ständigen Nachbesserungen beschäftigte Regierung anrichtet, nicht noch größer wird. Ohne Köhler wäre die Stimmung viel schlechter und die Verachtung, die die Regierung auf sich zieht, wesentlich größer.

Köhler, ein spröder, manchmal linkisch wirkender Mann, dem das Repräsentieren mehr Pflicht als Freude ist und dem das große, feierliche Wort gar nicht liegt, hat seinen Vorgänger Johannes Rau schnell und vollständig vergessen gemacht. Die Bürger hatten sich offenbar nach einer Kontrastfigur gesehnt. Rau war als "Menschenfischer" bekannt, was bedeutete, daß er politischen Konflikten, Entscheidungen und Zumutungen auswich und sich die Zustimmung des Wahlvolks durch Geldzuweisungen erkaufte. Diese Form der politischen Korruption wurde mit menschelnder Rhetorik garniert. Der Repräsentant des überbordenden Schuldenstaates konnte auch als Präsident nicht über seinen Schatten springen. Er begriff nicht, daß seine Moralisierung des Politischen mit der Zunahme der Krisensymptome bloß noch als "Gesülze" empfunden wurde. Als Staatsoberhaupt war Rau völlig nutzlos.

Köhler wiederum ist vorgeworfen worden, keine gesellschaftspolitischen Impulse zu vermitteln und die Gesellschaft ausschließlich durch den Fokus der Ökonomie zu betrachten. So zuletzt in seiner Rede vor den Arbeitgebern am 15. März. Das ist unwahr. Die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland wird nun mal durch den Kitt eines relativen Massenwohlstands gesichert. Die demokratischen Werte und Überzeugungen sind zweifellos lebendig, aber sekundär, weil sie sich - aus bekannten historischen Gründen - bisher nicht mit einem reifen Nationalbewußtsein verbinden konnten. Köhler, anstatt sich im Ungefähren zu verzetteln, setzt also klare Prioritäten. In seiner Rede am 15. März nannte er Zahlen, die der Öffentlichkeit kaum bewußt waren und die in der medialen Nachbereitung erneut unterschlagen wurden: Zum Schuldenstand von 1,4 Billionen Euro summieren sich Anwartschaften aus den Sozialversicherungen in Höhe von 5,7 Billionen Euro. Die Belastung zukünftiger Generationen beträgt insgesamt also 7,1 Billionen Euro, das sind 330 Prozent des Bruttoinlandprodukts - nicht des Bundeshaushalts. Um diesen Berg abzutragen, müßte die Gesamtwertschöpfung aus 3,3 Jahren verpfändet werden, und das bei einer katatrophalen demographischen Entwicklung. Soviel zum vielbeschworenen Nachhaltigkeitsfaktor in der deutschen Politik.

Köhler hatte zuvor dem Internationalen Währungsfonds in New York präsidiert und konnte die deutschen Probleme in mehrfacher Hinsicht aus der Distanz beobachten. Er weiß, daß die anhaltende Wirtschaftsflaute in Deutschland viel mit der kollektiven Psyche der Deutschen zu tun hat. Wahrscheinlich teilt er die Ansicht jenes englischen Deutschland-Experten, der kürzlich im Deutschlandfunk über "the German Scheißangst" spottete. Es fehlt an Selbst- und Zukunftsvertrauen.

Um dem abzuhelfen, hat Köhler eindeutige gesellschaftspolitische Signale ausgesandt, und zwar andere, als man sie von seinen Vorgängern gewohnt war. Den Plan der Bundesregierung, den 3. Oktober als Nationalfeiertag abzuschaffen, hat er durch eine schnelle Intervention beim Kanzler zu Fall gebracht. Nebenbei demonstrierte er Schröder mit einer gezielten Indiskretion, daß er das Spiel über die Medienbande ebenfalls beherrscht. In seiner Rede bei der Schillermatinee im Berliner Ensemble am 17. April warnte er, das eigene kulturelle Erbe nicht zu "verschleudern".

Er drückte die Sorge aus, daß die Übermacht der Bilder auf längere Sicht die Sprach- und Reflexionsfähigkeit beschädige. Bei der Gelegenheit landete er einen Seitenhieb auf die "arrogante Spießigkeit" des Regietheaters, das die klassischen Texte zum Spielmaterial degradiert. Die Kritik zielte darüber hinaus auf das Post-68er Revoluzzertum mit Pensionsanspruch. Die Reaktionen von Claus Peymann, Christoph Schlingensief und Kulturstaatssekretärin Christina Weiss waren Beleg genug, daß er eine empfindliche Stelle getroffen hatte.

Ohne auftrumpfend zu wirken, hat Köhler den bigotten Mea-culpa-Ton verabschiedet, den deutsche Politiker im Ausland gern anschlagen. Am 15. Dezember 2004 bekundete er in einer Rede vor der Organisation für Afrikanische Einheit in Addis Abeba die anhaltende Bereitschaft Deutschlands zur Entwicklungshilfe, um im selben Atemzug die Entwicklungsländer zu ermahnen, es sich nicht in der Opferrolle bequem zu machen. Ihm sei bewußt, "daß Afrika einen eigenen Charakter hat. Das ist ein Teil des Reichtums dieses Planeten. Ich akzeptiere es aber nicht, wenn dieser eigene Charakter als Vorwand für Untätigkeit und als Freibrief für Unrecht und Drangsalierung der eigenen Bevölkerung herangezogen wird. Dies festzustellen ist keine neokolonialistische Einmischung, sondern eine weltbürgerliche Verpflichtung."

Vor allem in der deutschen Geschichtspolitik hat Köhler neue Akzente gesetzt. Am 8. April war er bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des Bombenangriffs auf Halberstadt anwesen. Im Mittelpunkt seiner Rede stand die Trauer um die Toten und die zerstörte Stadt und nicht, wie sonst üblich, der relativierende Verweis. Von seiner Rede zum 8. Mai im Bundestag dürfte eine Langzeitwirkung ausgehen. Zum ersten Mal hat ein Bundespräsident die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Besatzungssoldaten offen angesprochen. Trotz erlebten Schreckens und des Bewußtseins eigener Schuld ist der Nationalsozialismus in Köhlers Sicht nicht das wichtigste und erst recht nicht das letzte Wort der deutschen Geschichte: "Aber wir sehen unser Land in seiner ganzen Geschichte, und darum erkennen wir auch, an wieviel Gutes wir Deutschen anknüpfen konnten, um über den moralischen Ruin der Jahre 1933 bis 1945 hinauszukommen." Er stellte das "Befreiungs"-Postulat nicht in Frage, gab ihm aber einen anderen Inhalt durch die Feststellung, die Deutschen seien "den Weg zu (ihrer) freien und demokratischen Gesellschaft aus eigener Begabung zur Freiheit gegangen". Wir hätten uns "als Nation wiedergefunden" und Grund, "stolz auf unser Land zu sein". Unbelehrbare NS-Nostalgiker kamen in seiner Rede - analog zur Realität -, nur am Rande vor.

Was Köhler als erreichte Normalität feststellte, war ein Appell an die Vernunft, aber auch eine Kampfansage an jene, die die NS-Zeit als Legitimationsgrund für ihre eigene politische Herrschaft mißbrauchen. Aus Kreisen von Rot-Grün wurde die Rede prompt als "etwas beliebig" kritisiert - ein Hinweis, daß sie dort als sehr bestimmt und irritierend verstanden wurde. Köhlers Amtsführung läßt die Frage nach einer Machtausweitung für den Bundespräsident so aktuell wie noch nie erscheinen.

Foto: Horst Köhler in der TU Cottbus: Aus der Distanz beobachtet


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