© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/05 20. Mai 2005

Zuverlässige Opferzahl ist nicht zu ermitteln
Das Werk Wolfgang Schaarschmidts über den Bombenangriff auf Dresden rekapituliert eine Diskussion, die bis heute andauert
Klaus Motschmann

Mit dem Buch des Berliner Arztes und Historikers Wolfgang Schaarschmidt über die Zerstörung Dresdens im Februar 1945 liegt ein maßgebender Beitrag zum augenblicklich aktuellen Themenkreis "Tätervolk - Relativierung deutscher Schuld - Geschichtsrevisionismus" vor. Schaarschmidt selbst hat sie als Jugendlicher in Dresden erlebt. Motive und Methoden dieser Auseinandersetzungen werden in zunehmendem Maße ohne Rücksicht auf wissenschaftlich-publizistische Mindeststandards durchgesetzt und dadurch den jeweils vorherrschenden ideologisch-politischen Leitlinien angepaßt. Zweifel oder gar Widersprüche werden vielfach mit dem Stigma neonazistischer Gesinnung belegt. Ein Musterbeispiel dafür sind die Auseinandersetzungen über die Zahl der Opfer der militärisch völlig sinnlosen Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945, also wenige Wochen vor Kriegsende. Der derzeit stattfindende Streit über die eingesetzte Kommission zur Ermittlung der Opferzahlen in Dresden (JF berichtete) beweist dieses eindrücklich.

Die Zahl der Opfer wird seitdem je nach politischem Zweck oder ideologischer Ausrichtung entweder sehr allgemein ("Zehntausende") oder in Größenordnungen zwischen 25.000 und 250.000 angegeben. In diesem Sinne notierte Viktor Klemperer, der den Angriff in Dresden überlebt hatte, in seinem Tagebuch am 22. Februar 1945: "Schamlos die kurzen Notizen über Dresden. Immer nur die unersetzlichen Kunstdenkmäler, kein Wort über die 200.000 Toten." Diese Feststellung Klemperers bezog sich auf die nationalsozialistische Führung, die von Zehntausenden Toten sprach, obwohl Goebbels wie Hitler realistisch eingestufte Schätzungen der damaligen Behörden in Dresden bekannt waren, in denen von 150.000 bis 300.000 Opfern die Rede war. Goebbels befürchtete Schockwirkungen in der Zivilbevölkerung und der Soldaten an der Front.

Die unklaren Angaben zu den Opferzahlen konnten mit der allgemeinen Verwirrung erklärt werden, vor allem mit der Tatsache, daß eine genaue Übersicht darüber fehlte, wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt der Angriffe in der Stadt aufgehalten haben; bis heute wird geschätzt, daß sich zusätzlich zu den 650.000 Einwohnern ca. 300.000 Flüchtlinge, Soldaten, Kriegsgefangene in der Stadt befanden.

Aus einem ganz anderen Grund hatten alle vier Siegermächte nach Kriegsende ein von ihrem Standpunkt gesehen verständliches Interesse an einer drastischen Minimierung der Opferzahlen, sowohl mit Rücksicht auf die öffentlichen Meinung in ihren eigenen und neutralen Ländern als auch auf das Nürnberger Militärtribunal. Einer der Hauptanklagepunkte dieses Tribunals lautete bekanntlich "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Deshalb hatte die sowjetische Militäradministration dem kommunistischen Bürgermeister Walter Weidauer mündlich die strikte Anweisung erteilt, anläßlich der Gedenkveranstaltungen zum ersten Jahrestag der Zerstörung Dresdens alles zu vermeiden, was als Relativierung der in Nürnberg verhandelten deutschen Kriegsverbrechen verstanden werden könnte.

Immerhin durfte die Zahl von 25.000 Opfern erwähnt werden, allerdings nur im Zusammenhang mit dem Hinweis, daß die deutsche Luftwaffe mit dem Bombenkrieg auf britische Städte begonnen habe, der dann auch von den Briten und Amerikanern geführt worden sei. In dieser Argumentation war ein verdeckter Affront gegen die Westmächte enthalten, der mit der Zunahme der Spannungen zwischen den Siegermächten schon bald offenkundig wurde: Die Methoden der Kriegführung sowohl Deutschlands als auch der Westmächte gegen die Zivilbevölkerung wurden auf eine Ebene geschoben und sollten sich dadurch eindeutig von der Kriegführung der Roten Armee unterscheiden. Diese habe den Krieg allein gegen die Wehrmacht, aber nicht durch Bombenangriffe gegen die Zivilbevölkerung geführt, wobei natürlich der Hinweis fehlte, daß die Rote Armee gar nicht über die dafür nötigen Bomberflotten verfügte.

Im Zuge des sich rasch entwickelnden Ost-West-Konfliktes durften dann höhere Opferzahlen genannt werden. Anläßlich des Besuches einer britisch-amerikanischen Journalistendelegation im Jahr 1946 sprach Bürgermeister Weidauer bereits von "Hunderttausenden" und forderte damit scharfen Widerspruch des britischen Delegationsleiters heraus. Dieser bezog sich in seiner Entgegnung auf einen offiziellen amerikanischen Bericht, in dem von 60.000 Toten die Rede ist. Im übrigen habe Weidauer als Angehöriger eines Volkes, das so viele Verbrechen begangen habe, nicht das Recht, über Recht und Unrecht der alliierten Kriegführung zu urteilen - eine Mahnung, die von weiten Kreisen auch heute noch streng beachtet wird.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wurden sehr bald auch ganz andere, viel höher angesetzte Zahlen genannt. Sowjetische Historiker kamen aufgrund ihrer Recherchen in Dresden 1946/47 zu dem Ergebnis, daß 135.000 bis 200.000 Menschen ums Leben kamen. Diese Angabe wird auch in der offiziellen einschlägigen Literatur der Sowjetunion genannt. Einer der maßgebenden sowjetischen Deutschlandexperten, Wladimir Semjonow - seit 1978 Botschafter in Bonn -, hält die Angaben noch für zu niedrig und geht von 250.000 Toten aus. Tatsächlich bewegen sich die Zahlenangaben aller möglichen anderen Untersuchungen zwischen 150.000 und 250.000 Opfern.

Das Amt für Protokoll und Auslandsbeziehungen der Stadt Dresden hat in einer Pressemitteilung anläßlich des Besuchs der britischen Königin im Sommer 1992 die Zahl von 202.000 angegeben, allerdings hinzugefügt, daß auch eine Zahl zwischen 250.000 und 300.000 realistisch sei. Neuere Forschungen seien noch nicht abgeschlossen. Als sie dann 1994 abgeschlossen waren, kam das Ergebnis 35.000 heraus, also etwa die Zahl, die unmittelbar nach Kriegsende von der Sowjetunion aus den erwähnten Gründen dekretiert worden ist. Wenn das kein Geschichtsrevisionismus ist, was dann?

Schaarschmidt gelangt nach einer sehr umfassenden und eingehenden Prüfung aller verfügbaren Quellen zu dem Fazit, daß eine einigermaßen zuverlässige Opferzahl des Infernos in Dresden nicht zu ermitteln ist. Zahlenangaben zwischen 135.000 und 200.000 seien durchaus begründet und kommen der historischen Wahrheit vermutlich am nächsten.

Mit Sicherheit kann nur festgestellt werden, daß mindestens 100.000 Opfer zu beklagen sind und daß demzufolge die Zahl von 35.000 Toten den bekannten ideologisch- politischen Erwartungen, nicht aber den Erwartungen einer seriösen wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Auseinandersetzung entspricht.

 

Wolfgang Schaarschmidt: Dresden 1945. Daten - Fakten - Opfer. Herbig-Verlag, München 2005, 272 Seiten, gebunden, 24,95 Euro

 

Blumen für die Bombentoten, Dresden 1945: Streitpunkt Opferzahl


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