© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/05 27. Mai 2005

Illusionskunst oder Kulissenzauber
Die Intelligenz des Sängers: Zum achtzigsten Geburtstag des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau
Andreas Strittmatter

Im Jahr 1955 veröffentlichte die Schallplattenfirma EMI zwei Aufnahmen von Schuberts Liederzyklus "Winterreise" - eine mit Hans Hotter, eingespielt bereits ein Jahr zuvor, die andere mit Dietrich Fischer-Dieskau. Den einen wie den anderen Bariton begleitete jeweils Gerald Moore. Die Behauptung, daß in diesem gleichsam zeitlich, ökonomisch und konzeptionell anverwandten Rahmen zwei vokale Welten aufeinanderprallten, mag zugespitzt scheinen. Doch der Gedanke drängt sich auf.

Bereits ab dem 24. Lebensjahr sorgte Dietrich Fischer-Dieskau - der in Berlin geborene jüngste von drei Söhnen eines Oberstudiendirektors und einer Lehrerin feiert an diesem Samstag seinen 80. Geburtstag - für Aufsehen bei den Festspielen in Edinburgh, Salzburg und Bayreuth und zudem auf bedeutenden Bühnen, sei er nun in seiner Heimatstadt, sei er in Wien oder München aufgetreten. 1955 befand sich Fischer-Dieskaus Karriere somit schon auf einem ersten Höhepunkt. Der knapp eine Generation ältere Hans Hotter hatte seine besten Tage hingegen bereits hörbar hinter sich. Der "Winterreise" näherte sich Hotter stimmlich mit einem schweren, gerade auch in den großen Partien Wagners erprobten dramatischen Bariton, derweil Fischer-Dieskaus vor allem lyrisches Organ für diese Musik wie geschaffen schien.

Doch obschon - der Einfachheit halber hier dem Lied vom "Lindenbaum" abgelauscht - Fischer-Dieskau lupenrein intoniert (wo Hotter auch einmal eine Nuance neben der richtigen Tonhöhe liegt), glasklar artikuliert (wo Hotter leicht nuschelt) und mit halber Stimme betörenden Klang verströmt (wo Hotter sich um ein ordentliches Mezzoforte oder Piano bemüht): Der Berliner Bariton läßt aufhorchen. Aber der ältere Kollege berührt, bewegt - gerade deshalb, weil nicht jeder Ton und jedes Quäntchen Klang so geschliffen, so poliert, so kultiviert und intelligent durchdacht daherkommt.

Nur am Rande bleibt zu erwähnen, daß in kundigen Kreisen die Meinung vorherrscht, besagte EMI-Aufnahme sei im Vergleich zu späteren Interpretationen noch am ehesten "unverstellt" und "natürlich".

An Fischer-Dieskau scheiden sich von jeher die Geister. Noch heute sieht sich der Jubilar einer großen Gemeinde glühender Verehrer ebenso gegenüber wie Kohorten von Kritikern, unter denen die milder Urteilenden in des Sängers Walten eine - immerhin hintergründige - Illusionskunst erblicken, derweil verschworene Verächter darin faulen Kulissenzauber erkennen mögen, der, im wirklich übel Sinn manieristisch, musikalische Tiefe mehr vorführe als auslote. Eines ist allen gemein: Der hie staunend, da zweifelnde Blick auf die enorme Produktivität eines Mannes, der sich mit fast übermenschlichem Fleiß in Lied und Oper wie sonst kein anderer Vokalist ein gigantisches Repertoire erarbeitet und dies zumeist auch der Nachwelt auf Tonträgern hinterlassen hat.

Über Geschmack und Gestaltung läßt sich streiten, weniger hingegen über Volumen und Anlage einer Stimme. Nicht selten jedoch mußten Geschmack und Gestaltung als Argument zwecks Rechtfertigung herhalten, wo stimmliche Defizite bei Fischer-Dieskau nicht zu überhören waren. Als Bariton verfügte er weder über die notwendige vokale Zurüstung für die großen Verdi-Partien wie Macbeth, Rigoletto oder Jago noch für die Anforderungen, mit denen Wagner seinen Sachs oder Holländer konfrontiert. Dennoch hat sich der "Meistersinger" (so der kräftig mit der Weihrauchpfanne fuchtelnde Biograph Kenneth Whitton) mit seiner lyrisch disponierten Gurgel durch all diese Partien gekämpft, gewiß einige funkelnde Facetten aus den jeweiligen Rollen herausschlagend, die Stimme aber auch trotz diverser Ticks über die Grenze des Möglichen fordernd.

Von Wagners Walküren-Wotan und dem Siegfried-Wanderer nahm er dennoch Abstand, obschon ihn Herbert von Karajan, stets auf der Suche nach "leichten" Wagnerstimmen, zu diesen Herausforderungen drängte. Insofern siegte zumindest diesmal in Fragen des Bescheidens ein Faktor, den man Fischer-Dieskau - einer zutiefst humanistischen Prägung wegen, die mannigfache Interessen auch jenseits von Bühne und Konzertpodium kennt - ohnehin schwerlich absprechen kann: die Intelligenz des Sängers.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen