© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/05 27. Mai 2005

Vergessene Kulturlandschaften
Über die Umsiedlung vieler Deutscher aus jahrhundertealten Siedlungsräumen in Osteuropa "heim ins Reich"
Klaus Wippermann

Ein Buch mit dem Untertitel "Die Deutschen aus Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, Galizien, der Karpaten-Ukraine und West-Wolhynien" dürfte zumal bei Jüngeren heute den Eindruck einer Zeitreise fast zurück ins Mittelalter und in ferne fremde Regionen hervorrufen. Der Haupttitel "Die Umsiedler" hingegen - auch wenn es sich hier um Maßnahmen während der Kriegsjahre 1940/41 handelt - könnte bei Älteren zunächst einen bestimmten Verdacht erregen: Denn mit diesem Begriff für Flüchtlinge und Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten fälschte die SED-Propaganda und eine willfährige Geschichtsschreibung ein millionenfaches Verbrechen um in einen harmlosen, geordneten Vorgang - wie dies gleichfalls der verharmlosende Begriff "Potsdamer Abkommen" für den auch auf diese Weise verdrängten Völkermord an Deutschen bis in die gegenwärtigen Schulbücher immer noch praktiziert.

Das Buch beleuchtet einen für heutige Leser zumeist kaum bekannten zeithistorischen Hintergrund; es beinhaltet gleichwohl auch aktuelle Bezüge: Zum einen wird aufgrund der Zeitwende in Osteuropa sowie der EU-Osterweiterung die Wiederentdeckung alter, auch von Deutschen geprägter Kulturlandschaften ermöglicht. Zum anderen aber kann hier anhand erlebter und erlittener Geschichte nachvollzogen werden, welche Konsequenzen eine ideologische Politik der Massenzuwanderung mit der Zielsetzung: "Durch Umvolkung zur Machtausweitung" samt der Schaffung möglichst vieler "ethnischer Brückenköpfe" für die Betroffenen hat. Auch damals nahm man die letztlich inhumanen und (selbst)-zerstörerischen Folgen anscheinend guten Gewissens in Kauf.

Und in der Tat schien vieles objektiv für Hitlers Vorhaben zu sprechen, als er in einer Reichstagsrede im Oktober 1939 die geplanten Umsiedlungen von Deutschen so begründete: "... der ganze Osten und Südosten Europas ist zum Teil mit nicht haltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade in ihnen liegt ein Grund und eine Ursache fortgesetzter zwischenstaatlicher Störungen. (...) Es gehört daher zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen."

Hitler schien hier äußerst rational, sogar Verzicht übend auf die nationalistischen Zustände zu reagieren, welche die Versailles-Mächte in Mittel- und Osteuropa in verantwortungsloser Weise 1919 mit antideutschen Zielsetzungen herbeigeführt hatten. Deren Intention, die Deutschen durch die Versailler Maßnahmen in eine existentiell bedrohliche und letztendlich nicht hinnehmbare, sondern nur gewaltsam zu verändernde Situation zu versetzen, hatte unter anderem der britische Premierminister Lloyd George offenbart: "... daß das deutsche Volk (...) rings von einer Anzahl kleiner Staaten umgeben werden soll, von denen viele aus Völkern bestehen, die noch nie vorher eine selbständige Regierung aufgestellt haben, deren jedes aber breite Maßen von Deutschland einschließt, die die Vereinigung mit ihrem Heimatland fordern".

Hitlers als außenpolitische Saturierheit deutbares Ansinnen hatte jedoch etwas anderes im Sinn, als er die in Mittel- und Osteuropa seit Jahrhunderten ansässigen deutschen Volksgruppen "heim ins Reich" holte: Er siedelte sie ab Ende 1939 vor allem im sogenannten Warthegau, der um eroberte polnische Kreise bis Lodz (damals Litzmannstadt) und bis siebzig Kilometer vor Warschau erweiterten früheren Provinz Posen, sowie in Westpreußen, dem ehemaligen "polnischen Korridor" von 1919, an. Es handelte sich insgesamt um fast eine Million Menschen überwiegend bäuerlicher Herkunft, einzig die Deutschbalten wie Deutsche aus Lemberg oder Tschernowitz unterschieden sich in ihrer oft städtischen oder gar landständischen Sozialstruktur von den bessarabischen, wolhynischen oder Sathmarer Bauern.

Die Ansiedlungsregionen waren also nur teilweise frühere deutsche Reichsgebiete. Die polnische Unterdrückungs- und massive Polonisierungspolitik entgegen den Versailler Bestimmungen in der Zwischenkriegszeit, während der etwa eine Million Deutsche geflohen beziehungsweise vertrieben worden waren, wurde nun nach dem Sieg über Polen umgekehrt und eben auch ins polnische Kernland ausgeweitet - mit Hilfe der umgesiedelten Deutschen sollten dort "ethnische Brückenköpfe" errichtet werden. Dabei wurden insbesondere im Warthegau dort jahrhundertelang ansässige Polen ins damalige "Generalgouvernement" vertrieben. Die doppelte Tragik der Umsiedler: Nach 1945 mußten sie wiederum, jetzt ohne Hab und Gut und unter Zwang ihre Siedlerstellen verlassen - falls sie die pogromähnlichen polnischen Gewaltmaßnahmen überhaupt überlebten.

Die Hauptteile des Buches - und die machen seinen besonderen Wert aus - schildern sehr detailreich die Entwicklung und den unterschiedlichen Charakter der jeweiligen früheren Siedlungsgebiete und ihrer deutschen Volksgruppen. Über Jahrhunderte hinweg wurden hier beachtenswerte, heute fast vergessene Kulturlandschaften geschaffen. Wie bald eine von vielen Generationen geleistete Aufbauarbeit allerdings wieder zerstört werden kann, das zeigen viele Beispiele aus den jetzigen Orten im heutigen Rumänien, der Ukraine oder Moldawien, die nicht nur durch die Kriegsereignisse, sondern auch eine starke Verwahrlosung nach 1945 ihre frühere Beschaulichkeit verloren haben.

Diese Publikation ist die letzte einer zwölfbändigen Edition über "Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche", die im Auftrag der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn erarbeitet wurde. Hier wird ein sehr großer Themenbereich dargestellt, der immerhin etwa 15 Millionen Deutsche betraf und zu einem Teil noch betrifft. Es ist ein Themenbereich, der in der veröffentlichten Meinung, in Politik und Wissenschaft ein nach wie vor geradezu kümmerliches Dasein fristet. Ein solches Ausmaß der Mißachtung der eigenen Geschichte wäre in keinem Kulturstaat der Welt vorstellbar.

Wenn man bei diesem letzten Band von einigen, dem politischen Zeitgeist geschuldeten historischen Perspektivverengungen absieht (und auch die mangelhaften Kartenskizzen außer acht läßt), so kann diese Publikation - wie auch die anderen Bände - durchaus als Nachschlagwerk und Handbuch bezeichnet werden. Wichtig sind nicht zuletzt die vielfältigen Hinweise auf derzeitige Institutionen und kulturelle Aktivitäten der Landsmannschaften.

Der Autor dieses Bandes ist Direktor des Bukowina-Instituts in Augsburg. Die Bukowina - das "Buchenland" - ist ein schmerzhaftes Beispiel für die einseitige Koexistenz verschiedener Volksgruppen vor der Zeit nationalistischer Überhebungen neu gegründeter Staaten und sodann diktatorischer Verfolgungen; vor allem aber für eine deutsch-jüdische Symbiose, deren Nachklang wenigstens nicht vergessen ist.

Foto: Registrierung von Umsiedlern aus der Dobrudscha, November 1940: Nach 1945 zweifach heimatlos

Kotzian, Ortfried: Die Umsiedler. Die Deutschen aus Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, Galizien, der Karpaten-Ukraine und West-Wolhynien. Verlag Langen-Müller, München 2004, 380 Seiten, Abbildungen, gebunden, 29,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen