© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/05 27. Mai 2005

"Ungeheuer, Schmarotzer und Spione"
Während des Ersten Weltkriegs gab es ab 1915 antideutsche Pogrome in den Großstädten und Deportationen auf dem Land, die die Lage in Rußland zusätzlich verschärften
Robert Korn

Der fluchtartige Rückzug russischer Armeen und die Gerüchte über hohe Verluste führten im Frühjahr 1915 dazu, daß sich in Rußland ein Sturm der Entrüstung erhob. In die patriotischen Aufrufe, "die Heimat zu verteidigen" und "das Slawentum zu befreien", mischten sich nun antideutsche Haßtiraden und der Appell: "Nieder mit den Deutschen!" Auf den Plan wurde das Thema des "inneren Feindes" gerufen, wobei zwischen eigenen Untertanen deutscher Herkunft und Ausländern keine Unterschiede gemacht wurden. Von den in der Presse als "Ungeheuer, Schmarotzer und Spione" diffamierten Deutschen lebten zu Beginn des Krieges allein in Moskau etwa 30.000 Personen. Sie waren erfolgreiche Unternehmer, besaßen Banken, Immobilien, Aktiengesellschaften, Fabriken, Geschäfte. Gegen diese "deutsche Übermacht" richtete die offizielle Propaganda nun ihre Angriffe.

Die Administration sah den Pogromen wohlwollend zu

Die antideutschen Ausschreitungen begannen am 26. Mai 1915 in der Kattunfabrik Hübner, wo die russischen Arbeiter verlangten, alle Angestellten und Arbeiter deutscher Herkunft zu entlassen. Auch in der Fabrik der Familie Prochorow war die Stimmung der Arbeiter seit dem 20. Mai gereizt: Nachdem es hier zu Fällen von Cholera und akuten Magenerkrankungen gekommen war, hieß es, die Deutschen hätten "im Betrieb das Wasser vergiftet".

Daß der Stadthauptmann A. Adrianow nichts unternahm, um die Gewalt zu unterbinden, interpretierte der Mob als Erlaubnis, die Pogrome fortzusetzen. Am Morgen des 27. Mai schlossen sich den streikenden Arbeitern der Hübner-Fabrik die Belegschaften anderer Betriebe an. In der Manufaktur "Emil Zündel" drang die Menge in das Betriebskontor ein und tötete den Verwalter Karlsen, der schwedischer Abstammung war.

Eine andere Tragödie spielte sich im Haus des Fabrikanten Robert Schrader ab. Hier stürmte die Menge in die Wohnung des Direktors sowie in die benachbarte Wohnung der Mitbesitzerin der Fabrik Betti Engels hinein, Witwe eines Ehrenbürgers der Stadt, deren Söhne Offiziere in der russischen Armee waren. Sowohl die Fabrikantenfrau wie auch die Witwe und zwei weitere Frauen wurden vom wütenden Mob im Abwasserkanal ertränkt bzw. totgeschlagen. Die Schrader-Fabrik wurde völlig demoliert und die Wohnung der Ermordeten in Brand gesteckt.

Gegen Abend des 27. Mai ordnete Adrianow als oberster Polizei-Vertreter Moskaus an, alle Deutschen aus den Moskauer Betrieben zu entlassen. Aber die antideutschen Demonstrationen verbot er nicht. Und am nächsten Tag versammelte sich auf dem Roten Platz eine riesige Menschenmenge, die nachmittags die Pogrome fortsetzte. Da die deutschen und jüdischen Namen ähnlich klangen, hielt die Menge an einigen Häusern an und beriet, bevor sie mit der Plünderung begann, ob der Inhaber nicht Jude wäre. War dies der Fall, zogen die "Demonstranten" weiter.

Die Plünderungen und Brandstiftungen ließen sich nur mit Hilfe regulärer Truppen beilegen, die am Morgen des 29. Mai in der Stadt eintrafen. Aber auch danach brodelte es in Moskau und in anderen Städten Rußlands. Insgesamt wurden in Moskau 732 Gebäude zerstört, darunter Geschäfte, Lager, Kontore und sogar Privatwohnungen. Die Summe der Verluste betrug mehr als fünfzig Millionen Rubel. Die Zahl der Opfer ist bis heute nicht ermittelt worden.

Der Senatsausschuß, der die Ereignisse untersuchte, kam zum Schluß, die Moskauer Pogrome hätten sich spontan entwickelt und nähmen solche Ausmaße deshalb an, weil die lokalen Behörden keine Gegenmaßnahmen ergriffen hätten. Es gibt sogar Hinweise, der Stadthauptmann Adrianow habe sich selbst an den Pogromen beteiligt. Eine ausgesprochen antideutsche Position vertrat auch "die erste Person" der Stadt, Fürst Felix Jusupow, ein Verwandter des Zaren, der auf einer Sitzung des Ministerrates auf die Notwendigkeit hinwies, alle Deutschen aus Moskau zu deportieren und in Konzentrationslager einzuweisen.

Neuesten Erkenntnissen russischer Hitoriker zufolge waren die antideutschen Ausschreitungen in Moskau von langer Hand geplant worden. Allein das im voraus veröffentlichte Verzeichnis der Moskauer Deutschen, deren Besitz geplündert oder demoliert werden sollte, spricht eindeutig dafür. So dirigierten auch Männer mit Armbinden die Menge zu den Orten der Deutschen.

Politisch gesehen stärkten die Pogrome die Position jener politischen Kräfte, die für die Fortsetzung des Krieges plädierten. Denn nach einer solchen Aktion, die die breitesten Bevölkerungsmassen umfaßt hatte, war es schwierig, den Separatfrieden mit Deutschland, den einige Politiker befürworteten, durchzusetzen. Denkbar auch, daß die Aktion geplant worden war, um die Enteignungen und Deportationen deutscher Kolonisten zu rechtfertigen.

Fest steht, daß die antideutschen "wirtschaftspolitischen Maßnahmen" zur Verschärfung der kritischen sozialen Lage russischer Werktätigen durch Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Das gilt besonders für die Folgen der Deportationen von Deutschen in ländlichen Regionen wie dem Wolga- oder Schwarzmeergebiet. Die Menschen, die in die leerstehenden deutschen Kolonistenhäuser eingezogen waren, konnten die landwirtschaftliche Produktivkraft nicht ausgleichen. Riesengroße Flächen "enteigneten" Landes waren nicht bebaut.

Schon Anfang 1916 wurde der russischen Regierung klar, daß das Reich einen wichtigen Getreidelieferanten verloren hatte. Der Ministerrat diskutierte sogar Maßnahmen, die es schleunigst ermöglichen würden, die vertriebenen deutschen Kolonisten wieder zurückzuholen.

Durch die Pogrome und Aktionen gegen die Deutschen wurde die wirtschaftliche Situation Rußlands zusätzlich geschwächt. Obwohl nicht ausschlaggebend, trugen sie dazu bei, daß die Situation sich zur Revolution 1917 verschärfte.

Foto: Antideutsche Demonstration in der Moskauer Twerskaja-Straße 1915: Die Pogrome waren von langer Hand geplant


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