© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Wenn Brüssel in Trümmer fällt
Was nun, EU? Ein einiges Europa souveräner Völker entsteht nur mit den Bürgern - oder es geht unter
Bernd-Thomas Ramb

Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zum Entwurf des europäischen Verfassungsvertrags signalisieren die maßgeblichen Politiker allgemeine, wie gelähmt wirkende Hilf- und Ratlosigkeit. Als ob ein negatives Ergebnis der beiden Volksabstimmungen grundsätzlich aus dem Bereich der Möglichkeiten ausgeschlossen war und nun das Undenkbare passierte. Wo war dann in ihren Augen die demokratische Wahl?

Wenn nur das Ja politisch korrekt und zulässig war, zeugt das von einer faschistischen Führermentalität der Politiker: Die EU-Politiker befehlen, das Volk folgt. Ungehorsam gilt als Verrat und ist als solcher zu bestrafen. Bezeichnenderweise hat der Parteichef der französischen Sozialisten, François Hollande, nach dem Nein-Ergebnis seinen Stellvertreter Laurent Fabius, immerhin ehemaliger französischer Premierminister, und fünf weitere Befürworter einer Ablehnung der EU-Verfassung von ihren Vorstandsposten enthoben.

Kadersozialistische Züge trägt auch die deutsche Entscheidung zum EU-Vertrag. Den Deutschen selbst wurde aus fadenscheinigen und staatrechtlich nicht haltbaren Gründen eine Abstimmung über den Verfassungsentwurf verwehrt. Es wäre ein ähnliches Ergebnis wie in Frankreich und den Niederlanden zustande gekommen. Die Angst der Politiker vor der Volksmeinung ging so weit, daß auch im Bundestag und Bundesrat auf ein möglichst einstimmiges Votum gedrängt wurde. Die einheitsparteihafte Dimension der Zustimmung spricht für sich. In Deutschland gilt das Prinzip: Die Parteispitze befiehlt, das Parlamentariervolk kuscht - von couragierten Ausnahmen wie einigen CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten abgesehen.

Das Entsetzen der EU-Politiker über den Widerstand des französischen und niederländischen Volkes entlarvt aber nicht nur deren Mentalität, sondern auch den Charakter der fehlentwickelten Europäischen Union. So totalitär wie die verantwortlichen Politiker wirkt auch das Gebilde EU schlechthin. Immer mehr Staaten werden immer schneller aufgenommen, ob die Mitgliederschwemme verträglich ist oder nicht. Das riecht nach EU-Imperialismus. Gleichzeitig soll eine übergeordnete europäische Zentralverfassung die Macht der EU-Spitze festigen und die nationalen Verfassungen beiseite schieben, ob die verfassungsmäßige Konzentration erlaubt ist oder nicht. Das erinnert an das nationalsozialistische Gleichschaltungsgesetz und den sowjetischen Totalitarismus.

Die instinktiven Vorbehalte der Bevölkerungen und die begründeten Einwände kritischer Beobachter der EU-Entwicklung werden mit ignoranter Arroganz beiseite gewischt oder als politisch inkorrekt, rechtsextremistisch und europafeindlich diskreditiert - gemäß dem Schrei des Diebes: "Haltet den Dieb!"

Ein Skandal ist aber auch das offen propagierte Bestreben, das Votum der Bürger nicht nur zu diskreditieren, sondern auch zu umgehen. Da wird in Anlehnung an das erfolgreiche irische Modell der wiederholten Abstimmung, bis schließlich das Ja zum unbeliebten Nizza-Vertrag der EU erfolgte, schon jetzt ein erneutes Referendum in Frankreich geplant. Der allgemeine Ratifizierungsprozeß, die Abstimmung in den übrigen EU-Staaten, soll fortgesetzt werden - ungeachtet der Tatsache, daß für das Inkrafttreten der EU-Verfassung die Zustimmung aller Länder erforderlich ist.

Die von Großbritannien zunächst vertretene Auffassung, weitere Abstimmungen, auch die im eigenen Lande, seien unnötig, ist konsequent und richtig. Die Notwendigkeit der Einstimmigkeit beinhaltet nun einmal ein Ko-System. Wenn das erste Land Nein sagt, ist das Vorhaben gescheitert. Wer dennoch die Fortsetzung fordert, will die Regeln ändern oder ignorieren.

Nun beabsichtigen auch die Briten, Gras über die Sache wachsen zu lassen und weitere oder erneute Abstimmungen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Das mutet genauso gesetzeswidrig an wie das Vorhaben, nach einem geheimen "Plan B" Teile des Vertragsentwurfs ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente zu verwirklichen. Die EU-Politiker, die dies fordern und verfolgen, beweisen damit allein, daß sie nicht nur an ihren Absichten, sondern auch an ihren Methoden festhalten wollen. Beides findet nicht die Zustimmung der europäischen Bevölkerungen. Alles Täuschen und Herumtricksen kann nicht von langem Bestand sein. Eine europäische Zusammenarbeit kann nur dann dauerhaft gelingen, wenn ihre Ideale und ihre Grundlagen dem Willen und den Wünschen der europäischen Völker entsprechen.

Um die Vorstellungen der europäischen Bürger und die der EU-Politiker wieder in Einklang zu bringen, bedarf es einer Überprüfung der politischen Inhalte und der politischen Handlungsweisen. Die Wünsche des Volkes (lat. populus) stets als "populistisch" zu entwerten, zeugt zumindest von arroganter politischer Überzeugungsunfähigkeit. Wenn es den EU-Politikern nicht gelingt, die Bevölkerung für ihre Argumente zu gewinnen, müssen sie die gegenteiligen Auffassungen der Bürger berücksichtigen.

Bezüglich der europäischen Entwicklung sind diese klar erkennbar: keine grenzenlose Erweiterung und keine identitätsraubende Vertiefung. Das heißt insbesondere: Beibehaltung der nationalen Verfassungen, Option auf eine Rückkehr zur nationalen Währung, Abwehr des Beitritts außereuropäischer Staaten, Bewahrung der nationalen Identität, Verhinderung der finanziellen Ausbeutung und Abschaffung der bürokratischen Monstrosität.

Unübersehbar ist auch der Wunsch der Bevölkerungen, am Abstimmungsprozeß häufiger, stärker und direkt beteiligt zu sein. Das gilt vornehmlich für das größte Volk in der EU, die Deutschen. Ein bloßer Verweis auf die angeblich verfassungsrechtlich bestehenden Hürden reicht künftig nicht mehr aus. Beim nächsten Mal müssen auch die Deutschen direkt abstimmen können, wie selbst der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda, der eher als Gegner der Volksabstimmung gilt, jetzt für den weiteren EU-Prozeß fordert.

Die Wünsche der Bevölkerungen aller an der EU beteiligten Staaten sind im Grunde nicht schwer umzusetzen. Schwerwiegend sind allerdings die Folgen für die EU-Politiker, die auf ein zentralistisches Europa sozialistischer Prägung setzen. Sie müssen umdenken oder abdanken. Die aktuellen Reaktionen dieser Politiker bestärken den Pessimismus, daß sie weder zu dem einen fähig noch zu dem anderen willens sind. Ein Festhalten an der alten EU-Politik mit den überzogenen Inhalten und den demokratiefernen Verfahren kann jedoch nur zum endgültigen Scheitern der Europäischen Union führen.


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