© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Fehlende Einsicht
von Thomas Paulwitz

Im nächsten Schuljahr wird das Rechtschreibchaos in ein neues Stadium des Wahnsinns eintreten. Dann nämlich werden Teile der Rechtschreibreform alleinverbindlich, während auf anderen Feldern die bewährte Rechtschreibung noch auf unbestimmte Zeit geduldet wird. So haben es jetzt die Kultusminister beschlossen. Ausbaden dürfen diese Zumutung Lehrer und Schüler. Wer Stengel statt Stängel schreibt, bekommt einen Fehler angestrichen, der gewertet wird. Wer auseinandersetzen statt auseinander setzen schreibt, bekommt einen Fehler angestrichen, der nicht gewertet wird. Wie soll das einem Schüler vernünftig erklärt werden?

Der Rat für deutsche Rechtschreibung, den die Kultusminister vor einem halben Jahr zum Konkursverwalter der Rechtschreibreform eingesetzt haben, glänzt mit unerwarteter Eigeninitiative und stellt mehr oder weniger die gesamte Reform in Frage. Damit wendet sich der Rechtschreibrat gegen die Interessen der Schul- und Wörterbuchverlage und der Kultusbürokratie. Der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair hat sich nicht als die Marionette erwiesen, als die er sicherlich gedacht war. Als ehemaliger bayerischer Kultusminister trägt er wesentliche Mitverantwortung für das jetzige Durcheinander. Doch Zehetmair stellt sich seiner Verantwortung. Er zeigt, was den heutigen Kultusministern fehlt: Einsicht.

 

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der Zeitung "Deutsche Sprachwelt".


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