© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Recht der Sieger statt Völkerrecht
Mehr als 500.000 deutsche Zivilisten wurden nach 1945 von den Alliierten oft völlig zu Unrecht in Entnazifizierungslagern eingesperrt
Hans-Joachim von Leesen

Daß die USA, und das nicht nur durch einzelne untergeordnete Institutionen, im Irak immer wieder gegen das Völkerrecht verstoßen, überrascht in Deutschland nicht wenige, die in dem großen westlichen Verbündeten auch einen Garanten von Freiheit und Recht wähnten. Dabei müßten die Deutschen in ihrer jüngsten Geschichte sehr bald auf Maßnahmen von US-Besatzungstruppen stoßen, die sich im Prinzip nicht von denen im Irak unterscheiden.

Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen Deutschland war, und auch darin ähnelt er dem Feldzug der USA gegen den Irak, der "Kampf der Guten gegen die Bösen". Als sich die Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten abzeichnete, entwickelte man in Washington wie in London Pläne, wie mit den Deutschen nach dem Sieg umzugehen sei. Einig war man sich mit den Verbündeten in Moskau darin, daß man vor allem den "Militarismus" und Nationalsozialismus ausrotten wolle, was man dann auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 schriftlich vereinbarte.

Aber schon vorher legte die auch mit deutschen Emigranten besetzte Research and Analysis Branch des Office of Strategic Services (OSS) die mit ihren Londoner Kollegen gemeinsam erarbeiteten Grundzüge der "Denazification" vor, ein Begriff, den Elmer Plischke, ein politischer Berater General Eisenhowers, erfand und der in der deutschen Version "Entnazifizierung" hieß. Diese Maßnahmen sollten parallel laufen zu denen der "Demilitarization" als innenpolitische Abrüstung der NS-Herrschaft. Beide zusammen hatten das erklärte Ziel, die deutschen Führungseliten auf Staats-, Länder- und selbst Gemeindeebene auszutauschen. Als Handwerkszeug der ersten Maßnahmen diente ein 131 Fragen umfassender Fragebogen der Alliierten Militärregierung, als dessen Autor und Erfinder der Chicagoer Richter Minor K. Wilson gilt und der so bemerkenswerte Fragen enthielt wie die Nummer 109: "Was haben Sie im März 1933 gewählt?"

Das Völkerrecht verbot Maßnahmen gegen Zivilisten

Am 24. September 1945 beauftragte der stellvertretende Militärgouverneur von Deutschland General Lucius D. Clay seine Rechtsabteilung, ein Gesetz zu formulieren, das die berufliche Beschäftigung von Nationalsozialisten unter Strafe stellte. Es trat am 26. September 1945 in Kraft. So sollte das gesamte Erwerbsleben "gesäubert" werden. Auf der Basis umfangreicher Arbeiten des britischen Geheimdienstes, der sich intensiv mit den innenpolitischen Strukturen des Deutschen Reiches beschäftigt hatte, wurde ein "Germany Basic Handbook" zusammengestellt, das als nützlichstes Mittel für die bevorstehenden Säuberungsaktionen in Deutschland galt. Es umfaßte die Namen von Personen, die in irgendeiner Weise in Deutschland Führungspositionen innehatten und die man zügig in Lagern (gelegentlich ehemaligen KZ) zusammenfassen wollte, um sie jeder Wirksamkeit zu berauben.

Über den Status, den diese Gefangenen haben sollten, zerbrach man sich nicht den Kopf, hatte man doch nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht keinerlei Gegenwehr mehr zu befürchten und konnte vom "Recht der Sieger" Gebrauch machen. Und das tat man ausgiebig, so daß gejagt von der Special Branch des CIC Ende 1945 bereits 100.000 Personen, ganz überwiegend Zivilisten, eingesperrt waren.

Ein Jahr später hatte sich die Zahl sogar auf 250.000 Menschen allein in der US-Zone erhöht, wie der Fragebogenerfinder Richter Wilson, der dann Chef der Denazification beim OMGUS-Staff in Berlin wurde, befriedigt registrierte: Ministerialbeamte, Industrielle, Militärs, Wissenschaftler, Wirtschaftsführer, führende Beamte vom Staatssekretär eines Reichsministerium bis zum Feuerwehroffizier, Funktionsträger der NSDAP und ihrer Gliederungen, Lehrer, Richter, Deutsche Christen, "Junker" (Großgrundbesitzer), Führer der Hitler-Jugend, Führerinnen des BDM und des RAD (Reichsarbeitsdienst), Intendanten und Sendeleiter des Rundfunks und Redakteure von Zeitungen. Persönlichkeiten, die durch ihre Qualifikation für die Rüstungspolitik der Sieger wichtig waren, wurden im Rahmen der "Action Paperclip" aufgespürt und sofort in die USA geschafft, damit sie für die Amerikaner etwa im Rahmen des Raketenbauprogramms weiter tätig sein konnten oder mußten.

Völkerrechtlich waren diese Maßnahmen in keiner Weise gedeckt. Die Haager Landkriegsordnung in der damaligen Fassung verbot, die Rechte und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei aufzuheben oder zeitweilig außer Kraft zu setzen oder die Klagbarkeit auszuschließen. Das Völkerrecht verbot Eingriffe in Leben, Freiheit und Eigentum der Zivilbevölkerung - und die meisten der Internieten gehörten zur Zivilbevölkerung -, soweit solche Maßnahmen nicht den Zwecken der militärischen Kriegsnotwendigkeiten dienen. Es verbot ferner, Menschen ohne Schuld zu bestrafen oder Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung zu verhängen. Da es aber niemanden gab, der diese Maßnahmen verhindern konnte, gab es auch keinen Grund, sich ans Völkerrecht zu halten.

Die Festnahmen erfolgten "automatisch", ohne daß in den allermeisten Fällen den Internierten persönliche Vergehen vorgeworfen wurden. Fast alle mußten ohne rechtlichen Beistand monatelang auf ihre erste Vernehmung warten, viele wurden nie verhört, sondern plötzlich, oftmals nach Jahren, entlassen.

Mißhandlung, Folter und Raub waren die Regel

Die Einlieferung in die US-Internierungslager verlief überall nach einem ähnlichen Ritual. Übereinstimmend berichteten ehemalige Inhaftierte, daß sie zunächst einmal verprügelt wurden. Die Prügeleien setzten sich bei Verhören fort, doch gab es auch andere Formen der Mißhandlung und Entwürdigung. Fast alle wurden von alliierten Wachmannschaften ausgeplündert. In den westlichen Besatzungszonen - in Deutschland wie in Österreich - verlief die Internierung von Personen, "die für die Besatzungsmächte und ihre Ziele gefährlich sein könnten", im Prinzip gleich, wenn auch in der US-Zone am rigorosesten vorgegangen wurde. Die Briten hatten etwa 60.000 Deutsche in Lagern eingesperrt, die Franzosen in ihrer Zone um die 22.000. Die meisten von ihnen wurden nach unterschiedlich langer Haft entlassen - etwa, wie der Schriftsteller Ernst von Salomon in seinem "Fragebogen" berichtet, mit der Begründung, die Festnahme sei irrtümlich erfolgt.

Außerhalb der Lager begannen dann die Entnazifizierungsverfahren, bei denen aufgrund von den Siegermächten geforderter deutscher Entnazifizierungs- oder Befreiungsgesetze Spruchkammern, zusammengesetzt aus den damals von den Siegern lizenzierten Parteien CDU, SPD, KPD und Liberale, die Fragebogen der Alliierten Militärregierung auswerteten, Beschuldigte und Zeugen anhörten und Urteile sprachen.

In den Verfahren mußte der Beschuldigte beweisen, daß er unschuldig war. Sodann wurde nach Gesetzen mit rückwirkender Kraft entschieden, ob er Hauptschuldiger, Belasteter, Minderbelasteter, Mitläufer oder Entlasteter sei. Danach wurden die Strafen verhängt - von der Einziehung des Vermögens über Geldstrafen, Arbeitslager, Verlust von Rente und Pension, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Kürzungen des Gehalts oder Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts. Die zuletzt genannte Strafe war fast obligatorisch. Ein Unrechtsbewußtsein hatten die Beschuldigten in den allermeisten Fällen nicht.

Die Entnazifierungsgerichte genossen in der Bevölkerung nur wenig Ansehen. Noch 1953 nach Abschluß der Entnazifizierung meinten nur 17 Prozent der befragten Deutschen, die Entnazifizierung sei notwendig gewesen und habe ihren Zweck erreicht. Vierzig Prozent nannten die Entnazifizierung unnötig und falsch; sie sei nichts anderes gewesen als eine Schikane der Besatzungsmächte. 23 Prozent erklärten, zwar sei eine Entnazifizierung notwendig gewesen, doch sei sie völlig falsch durchgeführt worden.

Schon 1947 distanzierten sich deutsche politische Parteien von der Entnazifizierung, an der Spitze die FDP. Die Kirchen wurden früh aktiv. So wandten sich Repräsentanten der katholischen und der evangelischen Kirche Weihnachten 1946 "An die Christen in den USA", um sich einzusetzen "für so viele Männer und Frauen, denen kein Verbrechen nachgewiesen werden kann". Sie prangerten an, daß "viele Tausende von Frauen und Müttern, die der NSDAP angehörten und im Rahmen der Partei eine sozial-caritative Arbeit geleistet haben, nicht propagandistisch hervorgetreten sind", ohne geordnetes Verfahren hinter Stacheldraht gehalten werden. "Wir bitten die Christen in den USA, Abhilfe zu schaffen." Unterzeichnet war der Brief vom Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, vom Freiburger Erzbischof Conrad Gröber und vom Vorsitzenden des Rats der Evangelischen Kirche, Theophil Wurm.

Dieser Abschnitt der Nachkriegsgeschichte ist bisher in bemerkenswert mangelhafter Weise wissenschaftlich erforscht worden. Einige Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Teilaspekten oder Bruchstücken jener Zeit; eine ernst zu nehmende Gesamtdarstellung fehlt. So ist bis heute unbekannt, wie viele Internierungslager es in den westlichen Besatzungszonen gab. Bemerkenswert ist auch die Zurückhaltung der Wissenschaft bei der Beantwortung der Frage, wie die Lebensverhältnisse in den Internierungslagern aussahen.

Nachgewiesen sind durch einen vom britischen Unterhaus eingesetzten Untersuchungsausschuß die menschenunwürdigen Verhältnisse in den britischen Internierungslagern Sandbostel und Fallingbostel. In ihnen wiesen Anfang 1946 etwa 45 Prozent der Inhaftierten Hungerödeme auf. Im Verhörlager Bad Nenndorf wurden Internierte durch Angehörige des britischen Geheimdienstes mißhandelt und gefoltert.

In der Sowjetzone starben in Lagern bis zu 80.000 Zivilisten

In der amerikanischen Zone fanden Folterungen statt im Lager Oberursel. Noch weit übertroffen wurden sie von den schweren Folterungen deutscher Kriegsgefangener im Zuchthaus Schwäbisch Hall durch Angehörige der War Crimes Commission unter Lieutenant Colonel Barton F. Ellis, die durch eine Direktive der US-Militärregierung vom 30. November 1945 dazu ausdrücklich ermächtigt worden waren. Auch sie waren Gegenstand von späteren Untersuchungen durch US-Kommissionen.

In der sowjetischen Besatzungszone wurden mit anderen Methoden, aber mit dem gleichen Ziel die deutschen Führungskräfte ausgetauscht. Die Entnazifizierung lief dort zunächst mit der Begründung, es müßten Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppe der Roten Armee von feindlichen Elementen durchgeführt werden. Nach dem 8. Mai richtete man zehn bis zwölf Lager ein, in der damaligen Bezeichnung "Speziallager". Nach sowjetischen Zahlenangaben sind dort 122.000 Deutsche interniert worden, von denen 43.000 ihr Leben verloren. 776 Internierte seien von sowjetischen Gerichten zum Tode verurteilt worden. Westliche Historiker schätzen die Zahlen allerdings höher ein. Sie kommen auf 180.000 in der SBZ internierte Deutsche, von denen zwischen 65.000 und 80.000 zu Tode gekommen seien.

Die sowjetische Militärverwaltung verkündete als erste Besatzungsmacht am 27. Februar 1948 das Ende der Entnazifizierung in ihrer Zone, während die Westmächte ihre entsprechenden Maßnahmen erst einstellen, nachdem sie im März 1948 aus dem Mund des Direktors der Abteilung für öffentliche Sicherheit bei OMGUS, Theo E. Hall, hören mußten, daß die Entnazifizierung nicht weiterhin den Wiederaufbau Deutschlands behindern dürfe. Die letzten Verfahren in der US-Zone fanden 1949 satt.

Verhaftete Parteigenossen werden 1945 ins Internierungslager deportiert: Viele wurden nie verhört


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