© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Immer noch ein Schreckbild
Ein Essayband des Deutschen Kulturforums östliches Europa dokumentiert die polnische Sicht auf Preußen
Peter Lebitsch

Eigentlich schätzte Polen die preußische Geistes- und Staatstradition nie. Seit dem 19. Jahr­hundert beherrschten antipreußische und antideutsche Motive die polnische Debatte. Solche "einseitigen Wahrnehmungen" wollten die Autoren anläßlich des "Preußenjahres" 2001, der dreihundertjährigen Wiederkehr der Krönung Friedrichs I., korrigieren. In Allenstein existiert sogar eine Kulturgemeinschaft Borussia, die das "deutsche Erbe" der preußischen Ostge­biete anerkennt und pflegt.

Der Band kündigt "Essays aus Polen und Deutschland" an, doch ergänzt nur ein deutscher Autor elf polnische Historiker und Germanisten. Trotz etlicher Wiederholungen lohnt die Lektüre; am meisten interessiert das Gespräch Adam Krzeminskis mit dem Historiker Rudolf von Thadden.

Polens kommunistische Regenten nutzten, so Edmund Dmitrow, die "schwarze Preußenle­gende" als wichtigste Legitimation ihrer Herrschaft. Das negative Preußenbild diente auch dazu, die Vertreibung der Ostdeutschen zu rechtfertigen. Der Nationalsozialismus, behauptete man links wie rechts, setzte preußische Traditionen unmittelbar fort. Fast alle Autoren halten diese These, wenn auch stark modifiziert, aufrecht. "Preußischer Mi­litarismus", der "meta­physische" Staatsgedanke, "dumpfer Gehorsams", hätten das "Dritte Reich" zumindest be­günstigt. In Preußen, lautet der Vorwurf, entwickelten die Untertanen nur wenig Eigeninitia­tive; sie blieben Instrumente des Herrschers. Der Staat kontrollierte die Gesellschaft. Zivil­courage war ein Fremdwort. Die These vom "toleranten" oder gar "multikulturellen" Preußen entspringe einem zum Mythos gesteigerten Wunschdenken.

Zwar würdigen die Autoren die exzellente preußische Verwaltung, das Bildungswesen, die "aufgeklärte" Obrigkeit, auch "Sekundärtugenden" wie Fleiß und Disziplin. Am Ende obsiege jedoch, schreibt Leszek Zylinski, die ungute Gesamtbilanz, für die es, meint Janusz Majcherek, "viele Gründe" gebe. Preußen, glaubt Jan Pikorski, beging "immer neue Aggressionen gegen seine Nachbarn, nur um selbst größer zu werden". Zwar führten andere Staaten auch Kriege, aber in Preußen sei der Krieg "zum wichtigsten Instru­ment der Politik mutiert, ein ideologisches, systemimmanentes Element".

Das "deutschnationale" Preu­ßen verdammen alle

Allerdings beachtete gerade Bismarck, den die Autoren sehr ge­ring schätzen, realpolitische Mäßigung und Weitsicht. Bismarck ne­gierte fundamental grenzenloses Er­obe­rungsstreben. Verschwie­gen wird die Frage, ob Preußen ohne starkes Militär hätte zur Großmacht auf­steigen können. Da ein vereintes Deutschland nicht existierte, war die preußische Armee kaum zu vermeiden. Der preußische Machiavellismus, oft angefeindet, verhielt sich zur Schwäche der Reichsverfassung umgekehrt proportional.

Zu Recht beurteilen die Autoren Preußens Rolle bei den polnischen Teilungen des späten 18. Jahrhunderts äußerst kritisch. Dabei verkennen sie keineswegs, daß die Dekomposition der polnisch-litauischen Adelsanarchie Polens staatlichen Un­tergang ermög­lichte. Und Preußen habe mehr als andere Teilungsmächte Polen modernisiert und re­formiert. Dennoch konnten sich, liest man bei Janusz Majcherek, Preußen und Po­len nur durch "Eliminierung" des je­weils anderen entwickeln. Lediglich in der Schaffung einer preußisch-polnischen Union, heißt es, lag eine Alternative begründet. Leider erwarb kein Hohenzoller die polnische Königs­krone. Denn das "deutschnationale" Preu­ßen verdammen alle Interpreten, auch Rudolf von Thadden.

Ein preußisch-polnisch-litauisches Ungetüm mußte jedoch als instabile Masse rasch zerfal­len und Preußen, ähnlich wie Sachsen, ruinieren. Und welchen Weg wäre das nicht­preu­ßische Deutschland gegangen? Die träge süd- und westdeutsche Fleischmasse, das groteske Sammelsurium der Viertel- und Krüppelstaaten, hätte ohne das preußische Rückgrat niemals die deutsche Einheit angestrebt, geschweige realisiert. Um­ge­kehrt hat das Fehlen der preußischen Balancestange die Teilung Deutschlands nach 1945 we­sentlich beschleunigt.

Preußen synthetisierte, erfährt der Leser, positive und negative Merkmale und entsprach ei­nem "Januskopf". "Gute" und "schlechte" Eigenschaften sind hier jedoch schwer voneinan­der zu trennen. Der Ambivalenz preußischer Ge­schichte entspricht dies nicht voll und ganz. Das gleiche Preußen, welches Deutschland einte, blockierte nach 1871 die innere Demokrati­sierung und gefährdete damit den deutschen Nationalstaat. Preußen ähnelte Kräften der Quantenphysik, beispielsweise "Schrödingers Katze", die, je nachdem, wie man sie betrachtet, zugleicht lebendig und tot ist.

Basil Kerski (Hrsg.): Preußen - Erbe und Erinnerung. Essays aus Polen und Deutschland. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2005, 294 Seiten, broschiert, 11,90 Euro


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