© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/05 10. Juni 2005

Nationale Kraftanstrengung
von Jost Bauch

Deutschland steht vor einer politischen Weichenstellung. Die Frage ist, mit welchen Konzepten soll auf die Misere dieses Landes reagiert werden. Bei aller politischen Unterschiedlichkeit im einzelnen zeichnen sich zwei (gegenläufige) Strömungen ab: Die eine bezeichne ich als forcierten Globalismus, die andere als sozial motivierten Protektionismus. Die eine Position, die eher im bürgerlichen Lager zu finden ist (inklusive rechter Sozialdemokratie) will sich der Globalisierung stellen und dieses Land "globalisierungsfit" machen, so daß Deutschland für Investitionen und Arbeitsplätze wieder attraktiv wird, die andere (eher traditionell sozialdemokratische) Position will einen protektionistisch geschützten Sonderweg Deutschlands und Europas mit gezielter Besteuerung von höheren Einkommen, Solidarausgleich und Beibehaltung eines höheren Lohnniveaus.

Die voraussichtlich im September bevorstehende Bundestagswahl wird Klarheit bringen müssen. Wahlen zeichnen sich durch eine Dichotomisie-rungstendenz aus: Die SPD wird zumindest im Wahlkampf die kapitalis-muskritische Karte ziehen und die Tendenzen der Globalisierung attackieren, das bürgerliche Lager wird als Befürworter des Globalismus auftreten.

Zwischen diesen beiden hier idealtypisch dargestellten Positionen gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Mischformen, die aber an dieser Stelle zu vernachlässigen sind. Beide Positionen haben ihre stärkeren und schwächeren Seiten. Die starke Seite der Globali-sierungsbefürworter ist, daß eine an die globalisierte Ökonomie angepaßte deutsche Wirtschaft Investitionen ins Land locken wird und in vielen Bereichen die deutsche Wirtschaft wieder konkurrenzfähig machen wird. Dies wird aber nur um den Preis einer weiter sinkenden Lohnquote zu haben sein. Es sei denn, die Investitionsrate ist so hoch, daß Arbeitskräfte knapp werden und damit das Lohnniveau steigt. Dies ist allerdings unwahrscheinlich, zumal in einer globalisierten Ökonomie steigende Lohnquoten sofort Migrationsbewegungen von Arbeitskräften auslösen, die der Verknappung von Arbeit entgegenwirken. Damit ist allerdings nicht zu erwarten, daß sich durch Anpassung an den Globalisierungsdruck - wie oft fälschlicherweise versprochen - der Wohlstand steigert. Im Gegenteil!

Wenn durch Globalisierungsdruck initiiert die Löhne sinken, wird die Binnennachfrage reduziert und das Steueraufkommen sowie die Transferzahlungen für die sozialen Sicherungssysteme werden absinken. Was gegebenenfalls durch bessere Positionierung am internationalen Markt gewonnen wird, geht auf der anderen Seite durch das absinkende Lohnniveau wieder verloren. Anpassung an die Globalisierung führt so keineswegs automatisch zu neuer Prosperität, auch wenn dadurch wieder Arbeitsplätze entstehen - der wirtschaftliche Niedergang ist so alleine nicht aufzuhalten.

Globalisierungsbefürworter berufen sich in ihrer Apologie des Freihandels auf die "Theorie der komparativen Kostenvorteile", wie sie der englische Nationalökonom David Ricardo am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat. Diese Theorie besagt, daß, wenn zwei Staaten Güter zu verschiedenen Preisen produzieren, es für beide Staaten vorteilhaft ist, wenn sie sich auf die Güter spezialisieren, die jedes Land am kostengünstigsten herstellen kann. Tauschen diese Länder ihre jeweils günstiger erstellten Waren aus, ist unterm Strich der Wohlstand beider Länder gestiegen, schließlich wäre der Aufwand, die günstig importierte Ware im eigenen Land herzustellen, größer als der des Ein-tausches dieser Ware gegen Waren, die im eigenen Land günstiger erstellt werden können.

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Die erfolgreichen Produkte deutscher Herkunft waren immer teurer als Konkurrenzprodukte, sie konnten es sein, weil sie qualitativ überlegen waren. Ja, der höhere Preis war geradezu ein Markenzeichen für bessere Qualität.

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Dieses Konzept ist aber nur stimmig, wenn jedes Land über Waren verfügt, die es billiger als andere Länder herstellen kann. Gelingt es einem Land, viele oder alle Waren günstiger als anderswo zu produzieren, so können die teurer produzierenden Länder den komparativen Kostenvorteil für sich nicht nutzen. Das Modell funktioniert nicht mehr. Darüber hinaus funktioniert dieses Modell nur, wenn man die Unbeweglichkeit der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit voraussetzt.

Ricardo ging zeittypisch davon aus, daß sich Kapitalisten lieber mit einer geringeren Profitrate im eigenen Land begnügen, "als daß sie eine vorteilhaftere Anlage für ihren Reichtum bei fremden Nationen suchen". Dies ist heute aber gerade durch die Globali-sierung grundlegend anders geworden. Der komparative Kostenvorteil, der durch ein gegenseitiges Geben und Nehmen entsteht, geht verloren, wenn ganze Industriezweige ihren Standort verlagern. Die Autoren Gerald Box-berger und Harald Klimenta haben diese Kritik am Globalisierungskonzept in ihrem Buch "Die 10 Globalisierungs-lügen" eindringlich beschrieben.

Der Vorteil einer protektionistischen Position ist, daß die Binnennachfrage durch "künstlich" hoch gehaltene Löhne auf einem relativ hohen Niveau gehalten werden kann, der Nachteil, daß die internationale Konkurrenzfähigkeit verlorengeht und politisch die nationale oder europäische Binnenmarktgrenze schwer zu etablieren und zu verteidigen sein wird. Durch den Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit werden viele Arbeitsplätze verlorengehen, so daß auch mittel- und langfristig durch eine protektionistische Politik das Lohnniveau sinken muß.

Auch gilt es an dieser Stelle zu bedenken, daß hohe Löhne große Anreize zur Rationalisierung der Produktion schaffen. Rationalisierungsmaßnahmen führen dazu, daß die Wertschöpfung durch einen geringeren Arbeitsanteil erfolgt. Damit wird der redistributive Effekt der Gewinne in Löhne zunehmend außer Kraft gesetzt. Die Gewinne der Kapitaleigner steigen, ohne daß über den Lohn Teile des Gewinns an die Allgemeinheit zurückfließen. Die ökonomische Ungleichheit wächst. Damit erreicht man mit einer hohen Lohnpolitik langfristig genau das Gegenteil von dem, was man intendiert hat: hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende soziale Ungleichheit!

Beide Konzepte werden so die Absenkung des Wohlstandsniveaus nicht aufhalten können: In der globalisierten Version unseres Szenarios wird es zwar viele Arbeitsplätze geben, die Löhne sind aber durch die Anpassung an das Referenzniveau der globalisierten Ökonomie so gering, daß eine massive Absenkung des Lebensstandards auch und gerade bei Arbeitsplatzinhabern die Folge sein wird. In der protektionistischen Version werden wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit viele Arbeitplätze verlorengehen. Die verbleibenden protektionistisch geschützten Arbeitsplätze werden aber durch das Heer der Arbeitslosen mit einer solchen Abgabenlast konfrontiert, daß de facto auch hier eine massive Lohnabsenkung nicht ausbleibt und auch hier das Lebensstan-dardniveau sinkt. Haben wir lediglich die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub?

Wir müssen konstatieren, daß ökonomisch entwickelte Länder mit hohem Lohnniveau auf alle Fälle zu den Glo-balisierungsverlierern zu zählen sind, egal welche Strategie sie einschlagen. Das Wohlstandsniveau wird sich in diesen Ländern nicht halten lassen. Weder eine völlige Öffnung in bezug zur globa-lisierten Ökonomie noch eine protektionistische Bunkerpolitik weist einen Weg aus der Krise.

Doch was ist zu tun, wenn man den ökonomischen Niedergang Deutschlands und Mitteleuropas nicht wie ein Naturereignis hinnehmen will? Ich plädiere für eine "gemischte Strategie", die einerseits sich den Imperativen einer globalisierten Ökonomie stellt und damit nach dem Prinzip des laissez faire des Marktes verfährt, andererseits aber innovative industrielle und technologische Kerne entwickelt, die in ihrer Entwicklungsphase durch Förderung und Protektionismus vom rauhen Wind des Marktes auf Zeit geschützt sind, um dann diese innovativen Produkte weltweit vermarkten zu können. Sich den Kräften der Globalisierung grundsätzlich entgegenstellen zu wollen, wäre dabei eine völlig verfehlte Strategie.

Völlig zu recht schreibt Hans Werner Sinn in seinem fantastischen Buch "Ist Deutschland noch zu retten?": "Es wäre keine Lösung, die Kräfte der Globalisierung und der europäischen Integration verhindern zu wollen. Ein solcher Weg wäre absurd und schon aus politischen Gründen zum Scheitern verurteilt. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Der Weg wäre auch völlig falsch, weil er die riesigen Chancen übersieht, die die Öffnung der Märkte für Deutschland bietet."

Im Grunde gibt es zwei Strategien, um ökonomisch am Weltmarkt erfolgreich zu sein: Die eine besteht darin, Produkte herzustellen, die billiger oder gleich billig sind wie Konkurrenzprodukte, die andere Strategie besteht darin, innovative Produkte auf den Markt zu werfen, die konkurrenzlos sind oder ein Qualitätsniveau bieten, das von Konkurrenzprodukten nicht erreicht werden kann.

Der Reichtum der "guten alten Bundesrepublik" beruhte genau auf einer solchen Innovationsrente, als Westdeutschland die Welt mit Produkten versorgte, die sonst nirgendwo hergestellt wurden oder zumindest in der Qualität nicht hergestellt werden konnten. Für diese Produktgruppen sind die Produktionskosten (inklusive Löhne) relativ unerheblich, man kann für diese Produkte fast jeden Preis erzielen. Die erfolgreichen Produkte deutscher Herkunft waren immer teurer als Konkurrenzprodukte, sie konnten es sein, weil sie qualitativ überlegen waren. Ja, der höhere Preis war geradezu ein Markenzeichen für bessere Qualität. Diese Innovationsrente zusammen mit der Gelegenheit zum Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Kriege führte in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer Wohlstandsexplosion.

Meinhard Miegel hat in seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft" quasi als "Spielerei" die Wachstumsraten der fünfziger und sechziger Jahre hochgerechnet: "Würde nämlich die Wirtschaft auch in den nächsten 50 Jahren mit den westdeutschen Raten der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wachsen, betrüge im Jahr 2050 das Volkseinkommen pro Kopf 665.000 Euro - im Geldwert von 2000. In der Lohntüte steckten im Durchschnitt 87.000 Euro im Monat, und jeder Bürger, vom Säugling bis zum Greis, könnte monatlich über gut 51.000 Euro verfügen, das heißt fast das Vierzigfache der heutigen Summe."

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Funktionseliten müssen wieder gefördert werden, der Leistungsgedanke muß wieder in der Schule Einzug halten, die Spaß- und Erlebnispädagogik mit "Volksabitur" gehört so schnell wie möglich abgeschafft.

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Natürlich sind diese Wachstumsraten auch bei brummender Konjunktur heute illusionär. Zumal wir in fast allen Bereichen den technologischen Vorsprung verloren haben, um Produkte herstellen zu können, die eine Inno-vationsrente einfahren können. Konkurrenzprodukte sind in weiten Teilen qualitativ zumindest gleichwertig und gleichzeitig billiger. Doch genau hier gilt es anzusetzen.

Deutschland braucht wieder Produktlinien, die zumindest qualitativ konkurrenzlos sind. In einer nationalen Kraftanstrengung gilt es, wieder die Voraussetzungen für die Erzielung von Innovationsrente zu schaffen. Dazu muß in einem viel stärkeren Ausmaß als bisher die Kooperation von Forschung und Wirtschaft ausgebaut werden.

Der Transfer von Wissen in marktfähige Produkte muß sehr viel schneller und effizienter erfolgen. Es müssen Forschungs- und Innovationszentren gegründet werden, die sich auf die Entwicklung von innovativen Produkten spezialisieren und wo High-Tech-Branchen unmittelbar auf Forscher und Forschungsergebnisse zurückgreifen können, wie andererseits die Forschergruppen ihre Erkenntnisinteressen und Arbeitsschwerpunkte bei den praktischen Fragestellungen der Industrie unmittelbar abholen können. Diese innovativen Technologieparks müssen durch Staat und Industrie gefördert werden und die neuen Produktlinien müssen bis zur Marktreife besonders geschützt werden.

Voraussetzung dafür allerdings ist, daß eine Totalrevision der Bildungs- und Hochschulpolitik erfolgt. Funk-tionseliten müssen wieder gefördert werden, der Leistungsgedanke muß wieder in der Schule Einzug halten, die Spaß- und Erlebnispädagogik mit "Volksabitur" und Mittelmaß-Heckenschnitt gehört so schnell wie möglich abgeschafft.

Natürlich kann eine Gesellschaft wie die Bundesrepublik von der weltweiten Vermarktung von High-Tech-Produkten alleine nicht "leben", auch wenn diese Produkte ein Gros der Wertschöpfung in einem Land ohne größere Bodenschätze ausmachen müssen. Auch im Bereich der "Allerweltsprodukte" mit geringem Innovationspotential von Papiertaschentüchern bis zu Plastikeimern gilt es weiter präsent zu sein.

Da allerdings in diesen Bereichen die Ausweichmöglichkeiten in Innovation und Qualität begrenzt sind, muß man sich hier voll den Wettbewerbsbedingungen der globalisierten Ökonomie stellen. Das heißt, daß die Non-High-Tech-Bereiche nicht umhinkönnen, die Produktionskosten (inklusive Löhne) zu senken. Nicht alle Menschen können als Spezialisten in der High-Tech-Branche beschäftigt sein, wir müssen auch Arbeitsplätze für Otto Normalverbraucher in diesem Lande schaffen und halten. Wir müssen uns allerdings darauf einstellen, daß hier angesichts der gewaltigen Konkurrenz aus dem Ausland die Löhne und damit der Lebensstandard absinken wird.

Deutschlands ökonomische Zukunft liegt weder in einer voraussetzungslosen Öffnung zur globalisierten Ökonomie noch in einer protektionistischen Containerphilosophie. Erforderlich ist ein strategischer Mix aus Globalisie-rungsöffnung und protektionistisch abgefederter Wirtschaftsförderungspolitik, um in ausgewählten ökonomischen Bereichen wieder weltweite Spitzenprodukte herstellen zu können.

Ein solcher strategischer Umgang mit wirtschaftspolitischen Problemen hat sich am Wohl der Bevölkerung in diesem Lande zu orientieren. Die Parteien sind an dieser Orientierung zu messen. Daß das einfach ist, einen solchen strategischen Umgang in der Wirtschaftspolitik zu implementieren, hat keiner behauptet.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb zuletzt auf dem Forum über die Rückkehr des Kapitalismus (JF 19/05) und die neue Patriotismus-Debatte (JF 2/05).

 

Foto: Bio-Synthesegasanlage Kirchmöser in Brandenburg: Bauleiter Hans Tegethaff inspiziert am 24. November 2004 die Brennkammer der neu installierten Bio-Synthesegasanlage Kirchmöser. Die Firma Spirit of Technology (SPOT) aus Frankfurt am Main hat nach eigenen Angaben für rund sechs Millionen Euro Europas erste Anlage mit einer aus den USA stammenden Technologie gebaut, bei der durch indirekte Befeuerung von Biomasse bei einer Temperatur von etwa 800 Grad Celsius ein Gas gewonnen wird, aus dem bis zu 50 Prozent Wasserstoff entnommen werden kann. Durch die Verbrennung des Wasserstoffs erzeuge die Anlage acht Megawatt elektrischer Leistung pro Stunde.


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