© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Pankraz,
Bernd das Brot und der Charme von Zugaben

Im Kinderkanal (KiKa) des Fernsehens gibt es einen festen Programmteil mit einem sprechenden und als Moderator fungierenden Roggenbrot, genannt "Bernd das Brot". Bernd das Brot verrichtet seine Arbeit mürrisch und mißgelaunt, löst aber am Ende seiner Auftritte im Publikum stets den stürmischen Ruf nach "Zugabe! Zugabe!" aus. Darin besteht die ironische Pointe der ganzen Veranstaltung.

Bernd das Brot sträubt sich, muß von seinen Mitmoderatoren durch immer dieselben Tricks regelrecht dazu gezwungen werden, noch einmal vor den Vorhang zu treten. Schließlich läßt er sich erweichen, liefert, gewohnt mißgelaunt, seine Zugabe ab, und das Publikum verzieht sich - bis auf einen einzelnen einsamen Jungen, der gar nicht genug von Bernd dem Brot kriegen kann und immer weiter "Zugabe! Zugabe!" in den mittlerweile leeren und gespenstisch widerhallenden Theaterraum ruft. Das ist dann der eigentliche Schluß der Sendung.

Pankraz gefällt dieser Schluß, er ist das einzig Bemerkenswerte an Bernd dem Brot und seinem Programm. Das Programm ist schlecht, doch die Konzertgebräuche haben sich im Laufe der Zeit so eingeschliffen, daß der Ruf nach Zugabe gleichsam automatisch ertönt, nach buchstäblich jedem Konzert, egal wie gut oder schlecht es gewesen ist. Alle wissen das inzwischen, fordern die Zugabe, nehmen die Zugabe entgegen, als sei sie im Preis inbegriffen, und gehen danach zufrieden nach Hause. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Bernd das Brot und der einsame Junge jedoch sind keine Gewohnheitstiere. Bernd muß jeden Abend neu zur Zugabe überredet werden, er weiß, daß er miserabel ist und keine Zugabe verdient. Und der Junge seinerseits lernt nie, daß nur ein Ritual abrollt, welches im Grunde nichts mit der Sache zu tun hat. Beide haften noch der alten, ursprünglichen Auffassung an, daß eine Zugabe etwas ganz Besonderes ist, kein Rabatt, den der Lieferant ohnehin in seine Preiskalkulation eingesetzt hat, und auch kein läppischer Rausschmeißer, sondern etwas ungemein Köstliches und Unverdientes, das schönste Geschenk an sich, das es gibt.

Pankraz erinnert sich an ein Thielemann-Konzert, wo es tatsächlich nicht nur eine, sondern zwei Zugaben hintereinander gab, vom ekstatisch gestimmten Publikum geradezu erfleht und vom Orchester nach einigem lächelndem Zögern gewährt. Das war kein einseitiges Geben mehr, sondern ein schier magisches Geben und Nehmen zwischen Orchester und Publikum, eine unerhört intensive gemeinsame Feier der Zusammengehörigkeit zwischen Oben und Unten im Zeichen exzellentester Musik.

Die Leute waren nach der ersten Zugabe aufgestanden, standen mit begeisterten Mienen und gelösten Zungen herum und wollten nicht gehen. Es wurde immer weiter geklatscht. Einige fielen sich gegenseitig in die Arme. Immer wieder ertönten Bravorufe, wenn sich der Dirigent und die Musiker verbeugten, abgingen, wiederkamen, sich erneut verbeugten. Zögernd erst, dann immer lauter und drängender erscholl der Ruf nach einer weiteren, bitte, bitte, einer allerletzten Zugabe. Und als schließlich auch diese absolviert war und die Musiker schon ihre Instrumente zusammengepackt hatten, standen immer noch Konzertbesucher in den Sesselreihen, wußten offenbar nicht, wie ihnen geschehen war, und mußten von den Saaldienern energisch zum Abgehen ermahnt werden.

Bei manchen berühmten Rockkonzerten soll es schon ähnlich, wenn auch weniger kultiviert, zugegangen sein. Und der legendäre Theaterkritiker Friedrich Luft pflegte gern zu erzählen, daß er als junger Bühnenfan während der dreißiger Jahre in Berlin sogar im Sprechtheater einige Male eine Art Zugabe erlebt hatte: Bestimmte Protagonisten wurden durch kollektiven Zuruf aufgefordert, gewisse Stellen noch einmal vorzuspielen bzw. vorzusingen, zum Beispiel der Narr bei Shakespeare sein Lied "Aber der Regen, er regnet jeglichen Tag..." Die Stimmung sei nicht weniger ekstatisch gewesen als bei den klassischen Konzerten und bei den Rockkonzerten.

Es ist überdeutlich: Die Zugabe verliert in solchen Situationen ihren ursprünglichen Sinn, nämlich den einer höflichen kleinen Extrawurst, entmaterialisiert sich gewissermaßen. Künstler und Kunstempfänger sind da in einem Zustand, wo es gar nicht mehr um einzelne Kunstwerke, Konzerte, Aufführungen, geht, sondern um die Kunst überhaupt, um den Kunststrom, in den man gemeinsam eingetaucht ist und der einen mitreißt, wer weiß, wohin. Die Zugabe ist das Symbol dafür.

Ihrer Darbietung wohnen, wie jeder Ekstase, zerstörerische Momente inne; statt der Zugabe hätten die Musiker auch ihre Instrumente zertrümmern und ins Publikum schmeißen können, so wie man nach enthusiastischen Trinkrunden die geleerten Gläser hinter sich wirft und zerklirren läßt. Bei einigen großen Rockkonzerten wurden bekanntlich nach Ende der Vorstellung von den entfesselten Fans sämtliche Stuhlreihen kurz und klein geschlagen, eine Zugabe ganz eigener Art, dem "Potlatsch" verwandt, jener Geschenkzeremonie bestimmter Naturvölker, die am Ende, "wenn die Götter erscheinen", in wilde Verschwendungs- und Zerstörungsorgien einmündet.

Vielleicht hat es der einsame Junge in den von Bernd dem Brot verantworteten Konzerten gar nicht wirklich auf eine zweite, "echte" Zugabe abgesehen, vielmehr auf Zerstörung. Er will das alberne Brot nicht bejubeln, sondern er will es zerstören, weich machen, ein für allemal zermatschen. Und wer jetzt fragt: "Wo bleibt da die Kunst?", dem sei versichert, daß Menschen nicht nur durch vollendete Kunst in Ekstase versetzt werden können, sondern mitunter auch durch das dauernde Anschauen entfesselter Dummheit, leider.

Wie man es auch wendet, der Schlußgag von Bernd dem Brot im Kinderkanal ist die schärfste Selbstkritik, die das Fernsehen je geübt hat.

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