© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Der Lenker der Demokratie
Gernot Erlers kritische Betrachtung zu Wladimir Putin läßt einige Fragen zur SPD-Konzeption zu den deutsch-russischen Beziehungen offen
Wolfgang Seiffert

Unter den jüngsten Veröffentlichungen in Deutschland über Rußland unter Putin verdient die Schrift von Gernot Erler besondere Aufmerksamkeit. Schließlich ist der Autor stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, was es nahelegt, hier so etwas wie ein Konzept der SPD für die deutsch-russischen Beziehungen zu erwarten.

Bewußt verzichtet Erler auf eine Erörterung der Persönlichkeitsmerkmale des russischen Präsidenten Putin ebenso wie auf eine begriffliche Bewertung dessen, was man heute allgemein das "System Putin" nennt. Statt dessen versucht er die Situation in Rußland anhand der drei Konflikte "Beslan", "Chodorkowskij" und "Ukraine" darzustellen, wobei er ankündigt, die drei Konfliktbeispiele so detailliert zu schildern, daß der Leser sich selbst ein Bild machen kann, während er seine persönliche Bewertung erst im Schlußkapitel vornehmen will. Die Methode ist sicher vertretbar.

Die einzelnen Beispiele werden denn auch ausführlich beschrieben, wenngleich naturgemäß nicht viel von den im Umschlagdeckel angekündigten "aktuellen und brisanten Details" zu finden ist. Andererseits ist Erler bei der Darstellung der angekündigten Hintergründe oft lückenhaft. So geht er bei der Schilderung des ersten Tschetschenienkrieges (1994-1996) und seiner Beendigung durch einen Vertrag zwischen Jelzin und Maschadow mit keinem Wort auf die Rolle Beresowskijs ein, über die heute eine Menge bekannt ist. Auch ist die bei dieser Gelegenheit von Erler getroffene Feststellung, Putin habe die Präsidentschaftswahlen 2000 mit dem Versprechen gewonnen, den Tschetschenienkonflikt zu lösen, zumindest einseitig. Denn wenn auch das energische Vorgehen Putins im Tschetschenienkonflikt ein wichtiger Grund war, so spielten für viele Wähler eine Reihe anderer Faktoren eine wichtige Rolle.

Sicher hat Erler recht, daß Putin aus den Ereignissen die Konsequenz zog, seinen Kurs auf die Entwicklung einer starken, das ganze Land erfassenden Staatlichkeit fortzusetzen, wenn man auch zweifeln kann, ob es gerechtfertigt ist, dies als "Ausweitung seiner persönlichen Macht" zu charakterisieren. Zumindest stimmt das kaum mit der wiederholten Versicherung Putins überein, er werde entsprechend der Verfassung 2008 nicht wieder als Präsident kandidieren.

Die angekündigten Gesetzesvorhaben sind übrigens inzwischen weitgehend von der Duma verabschiedet worden und enthalten die Umstellung des bisherigen Wahlsystems auf ein reines Verhältniswahlrecht (wofür in Deutschland jüngst der SPD-Vorsitzende Müntefering plädierte), nur noch registrierte Parteien dürfen Kandidatenlisten einreichen, und die Hürde für den Einzug in die Duma wurde von fünf auf sieben Prozent erhöht. Alles Maßnahmen, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann, die aber weder verfassungswidrig sind noch die "persönliche Macht" des russischen Präsidenten direkt tangieren. Hier zeigt sich erneut ein Mangel vieler Veröffentlichungen über die Politik Putins. Sein offensichtliches Bestreben, die Staatlichkeit und die politische Ordnung Rußlands mit den Mitteln des Rechtsstaates zu festigen, wird ignoriert oder als rechtswidrige Verfolgung diffamiert.

Bei Erler zeigt sich das besonders in der Abhandlung des "Fall Chodorkowskij". Nicht nur, daß das Vorgehen gegen Chodorkowskij in Rußland breite Zustimmung fand (was Erler erwähnt) - auch rechtlich ist gegen die Verhaftung des Oligarchen und gegen den Strafprozeß nichts einzuwenden. Denn Erlers Anmerkung, es sei nicht vorstellbar, daß der russische Generalstaatsanwalt Ustinow ohne Rückendeckung von Putin gegen Chodorkowskij handelte, ist juristisch irrelevant. Zudem ist diese Praxis in vielen Rechtsstaaten nicht außergewöhnlich. Aber ebenso wird in jedem Rechtsstaat bei Betrug und Steuerhinterziehung gerichtlich gegen Verdächtige vorgegangen. Allenfalls ist kritisierbar, daß Chodorkowskij nicht der einzige Oligarch ist, der Gesetze verletzt hat, aber gegen die anderen nicht auch vorgegangen wird. Doch dies ist keine juristische, sondern eine rechtspolitische Frage. Das gleiche gilt für die von Erler erwähnte Resolution, die dem US-Senat vorlag, wie für die Resolution des Europarates und den Bericht von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP).

Sie alle wissen nicht mehr vorzubringen als eine "selektive Anwendung des Rechts", der Rest sind unbewiesene Behauptungen. Dabei muß man sich schon wundern, warum der Europarat zwar eine Juristin mit der Berichterstattung beauftragte, die jedoch ohne Kenntnisse der russischen Rechtsordnung ist, und nicht einen ausgewiesenen Ostrechtsforscher, von denen es immerhin einige in den EU-Ländern gibt.

Erler erwähnt, daß Putin immer wieder der russischen Zivilgesellschaft seine Reverenz erwiesen hat, kritisiert aber die tatsächliche Praxis. Eben hier erweist sich die Methode, die Situation anhand von Beispielen abzuhandeln, auf Begriffe aber zu verzichten, als unzureichend. Denn so bleibt unklar, was eigentlich Erler beziehungsweise Putin unter "Zivilgesellschaft" verstehen. Bei Erler wird diese offenbar gleichgesetzt mit "Nichtregierungsorganisationen", was nicht nur unzulänglich ist, sondern so auch die russische Öffentlichkeit nur darin bestärken kann, es handle sich um subversive, vom Ausland finanzierte Gruppierungen.

In Wirklichkeit aber hat der Westen nie definiert, was er damit meint: die Übertragung jener "Bürgergesellschaft", wie sie in Westeuropa vor zweihundert Jahren entstand? Oder die Übertragung jener politischen Strukturen, wie sie heute in den USA oder in Westeuropa bestehen? Oder den von Antonio Gramsci entwickelten und inzwischen zum Modewort gewordenen Begriff? Doch selbst Putin sagt nie klar, was er damit meint. Am ehesten noch ist anzunehmen, daß es ihm um jene "organische Verbindung" der allgemein menschlichen Werte mit den ursprünglichen "russischen Werten" geht. Immerhin widmet Erler sich der "russischen Idee", wenn auch als einem der Widerstände gegen die "Wunschliste", die der Westen an Rußland hat. Auch hierbei geht Erler auf die von seinem Mentor Sobtschak übernommene These von der Verbindung traditioneller Werte mit den Menschenrechten nicht ein. Offenbar hält er die "russische Idee" für überholt und überwindbar. Aber gerade zu ihr hat sich Putin bei seinem Machtantritt 2000 bekannt. Und bekanntlich gilt noch immer "Tradition ist stärker als Revolution".

Von daher erhält auch die Entwicklung in der Ukraine ihr besonderes Gewicht. Das Kapitel über die "Orangene Revolution" kann als besonders gut gelungen bezeichnet werden, weil es den Ablauf der Ereignisse ausführlich schildert und auch den Hintergrund mit den geopolitischen Spielern Rußland und USA (einschließlich der Gelder, die in den Wahlkampf flossen) aufhellt.

Gewisse Einseitigkeiten bleiben allerdings auch hier nicht aus. So etwa, wenn er schreibt, die russische Führung "unterstelle" dem ukrainischen Präsidenten Juschtschenko, er wolle die Ukraine in EU und Nato führen, und meint, ein solches gegen Rußland gerichtetes politisches Abdriften der Ukraine werde "sich nicht bestätigen". Doch Juschtschenko erklärte schon während des Wahlkampfes, die Ukraine müsse in EU und Nato, und noch während der Auslieferung von Erlers Buch an den Buchhandel erklärten Bush und Juschtschenko, die Aufnahme der Ukraine in die Nato müsse möglichst kurzfristig erfolgen.

Auch fehlt nicht der Hinweis, die "Orangene Revolution" sei weder gesponsert noch gekauft. Natürlich konnte Juschtschenko nur Erfolg haben, wenn es im Lande selbst Mißstände gab, an die er anknüpfen konnte. Ob dies aber auch ohne die Finanzen aus den USA und die 50.000 Wahlhelfer so gelungen wäre, die bei Madeleine Albright ausgebildet wurden (ich habe mich mit manchen unterhalten), darf bezweifelt werden.

Nach alledem plädiert Erler in seinem Schlußkapitel für eine "konstruktiv-kritische Partnerschaft" oder eine "offene Partnerschaft". Sieht man von den Kriterien "kritisch" oder "offene" (was soll Partnerschaft denn sonst sein?) ab, kann man solcher Orientierung nur zustimmen. Konzeptionell sagt der Autor dazu leider wenig. Denn er beschränkt sich darauf, es liege im deutschen Interesse, daß es zu keiner Abschottung Rußlands käme, was vor allem Schaden für die deutsche Wirtschaft mit sich brächte. Das ist richtig und doch zu wenig, um eine solche Partnerschaft politisch zu begründen. Kann Rußland in seinem gegenwärtigen Zustand Deutschlands Partner in der sich entwickelnden neuen Weltordnung sein? Wie ist sie mit dem besonderen Verhältnis Deutschlands zu den USA zu vereinbaren?

Dazu schweigt Erler. Sicher verdienen solche Fragen gründliche Antworten, die von dem Autor in der notwendigen Ausführlichkeit an dieser Stelle nicht erwartet werden konnten. Doch eine konzeptionelle Richtung wäre möglich und schon deshalb notwendig gewesen, weil die zu erwartenden Kritiker des Buches hier ansetzen werden. Die "Fallbeispiele" werden sie ihm schenken, weil sie die nicht viel anders sehen.

Fazit: Gemessen an dem negativen Rußlandbild in der deutschen Öffentlichkeit kann Erlers Buch helfen, mehr Sachlichkeit und Verständnis in die Diskussion über Rußland zu bringen. Gemessen an der Frage nach der politischen Konzeption der SPD zu den deutsch-russischen Beziehungen bleibt es hinter den Erwartungen zurück.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?"

Foto: Wladimir Putin mit Gerhard Schröder im April 2005 in Hannover: "Konstruktiv-kritische Partnerschaft"

Gernot Erler: Rußland kommt. Putins Staat - der Kampf um Macht und Modernisierung. Herder Verlag, Freiburg 2005, 190 Seiten, broschiert, 8,90 Euro

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