© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Der Phänomenologe
Siegfried Gerlich führt über das Gespräch mit dem Historiker Ernst Nolte in dessen Gesamtwerk ein
Harald Seubert

Daß ein Menschenschlag jenseits der Geschichte denkbar wird und vielleicht bereits heraufdämmert, und daß sich zunehmend ein Ende bisheriger abwägender Geschichtsschreibung und -forschung in Richtung auf neue "mythologische oder dogmatische Grunderzählungen" abzeichnet, ist eine der bemerkenswerten Einsichten in dem jüngsten Gesprächsband von Ernst Nolte.

Nolte gibt in dem vorgelegten Gesprächsband, entlang der kenntnisreichen Fragen Siegfried Gerlichs, Einblick in Genese und Impetus seines ebenso eindrucksvollen wie konsequenten Lebenswerkes. Obgleich er in den letzten Jahren vereinzelte kluge Retrospektiven auf sein Œuvre vorgelegt hat, hat dieser Band sein eigenes Profil für den mit Noltes Arbeit Vertrauten oder den, der sich damit auseinanderzusetzen beginnt. Verdienstvoll ist der Band auch, weil er zentrale Begriffe unzweideutig klärt: etwa daß Nolte unter "Gulag" den roten Terror seit den Tagen der Oktoberrevolution versteht, nicht erst die stalinistischen Lager.

Zeitspuren wie die Desavouierung Noltes im "Historikerstreit" der Jahre nach 1986, in dem disparateste Elemente zusammenkamen, nicht zuletzt auch die Verletzungen, die Nolte zugefügt wurden, werden deutlich benannt.

Von Anfang an liegt der Schwerpunkt des Bandes aber auf dem genuinen Karat von Noltes geschichtsphänomenologischem und ideologiehistorischem Ansatz. Er verstand sich seit jeher als Phänomenologe, indem er historische Erscheinungen so zu erkennen versuchte, wie sie sich von sich her zeigen. Die Deutung einer Partei oder Bewegung ist ohne einen solchen Zugang gar nicht möglich. Sie verlangt die Erfassung des Selbstverständnisses der Ideologien, aber auch der agierenden und in den ideologischen Sog gerissenen Menschen. Ein gewisses Maß von Sympathie ist Nolte zufolge unerläßlich, wenn Sympathie dem griechischen Wortsinn folgend heißt, mitempfinden, nachvollziehen zu können.

Der methodische Neueinsatz, den Noltes Trilogie der Ideologie in der deutschen Geschichtswissenschaft bedeutete, wird noch einmal eindrucksvoll deutlich. Schon der "Faschismus in seiner Epoche" hatte, anders als gängige Fragestellungen deutscher Historiker in jener Zeit, eine dezidiert komparative, gesamteuropäische Perspektive, und seinerzeit (1963) mußte Gebrauch und Prägung des Faschismusbegriffs etwas wie ein "Hermaion" für die Linke sein.

Hinter einer "mittleren Ebene", der Erkenntnis des Faschismus als des "Todeskampfs der souveränen, kriegerischen in sich antagonistischen Gruppe", in der Nolte heute selbst seine "größte Nähe zum Marxismus" sieht, wird auch dank der Sensibilität des Gesprächspartners Gerlich die kaum rezipierte philosophische Tiefenschicht von Noltes Geschichtswerk deutlicher: In der Folge Heideggers begreift er den Menschen als Wesen der Transzendenz; was mit seiner Deutung des Judentums als des "Volks der Menschheit" korrespondiert. Eine abgründige Ambivalenz ergibt sich daraus, daß der Nationalsozialismus "Widerstand gegen Transzendenz" mit Mitteln einer Transzendenz des Menschen im Sinn der Züchtungsphantasien exekutiert.

Noltes Geschichtsdenken kreist wesentlich um die Trias von Nietzsche, Marx und Heidegger, dem Lehrer früher Freiburger Jahre. Einem in den letzten Jahren seltsame Konjunkturen feiernden eirenischen Nietzsche-Bild kann er zu Recht ganz und gar nicht zustimmen. Vielmehr treibt er die Züge des "Extrem-Radikalen" ins Relief. Nietzsche erscheint, ohne daß die Vielstimmigkeit seines Denkens mit Nebenmotiven wie dem Gedanken vom "guten Europäer" von Nolte ignoriert würde, als "Vordenker der Vernichtung"; seine Stoßrichtung galt freilich weit weniger sozialistischen Bewegungen als dem Liberalismus als (Selbst-)Aushöhlung europäischer Kultur. Und Nolte erinnert eindrucksvoll daran, daß ein Verständnis des zwanzigsten Jahrhunderts ohne genaue Marxkenntnis nicht möglich ist. Er selbst hatte einst den Topos vom "Kapitalismus" auf die konkrete Geschichte der Industriellen Revolution zurückzuführen versucht (in seinem Werk "Marxismus und Industrielle Revolution", 1983). Das eigentliche Faszinosum seiner Marx-Rezeption dürfte aber darin liegen, daß er die Entsprechungen zwischen Marx und der politischen Romantik eines Adam Müller oder Carl Ludwig Haller und des britischen Toryism freilegt.

Heideggers Bedeutung für seine eigene Entwicklung gewichtet Nolte hoch: Wäre er ihm nicht begegnet, wäre er nach eigenem Urteil ein "politisch interessierter Studienrat geworden und geblieben". Die Instanz des "Menschenverstandes" wendet er dennoch ohne Zögern auf den dunklen Denker des Seins an - und begreift seine intensiven Heidegger-Studien als "Amputation" jenes Denkens auf Politik und Geschichte. Auch davon gibt der Gesprächsband einen brillanten Abriß.

Im Ton ist dieses Gespräch auf beiden Seiten souverän, in einer heute selten gewordenen Weise uneitel, sachlich und insofern im besten Sinn "phänomenologisch". Nolte spricht aus dem Selbstbewußtsein heraus, das auf ein Werk verweisen kann, dessen Gehalt noch längst nicht ausgeschöpft ist, und zum Verständnis des zwanzigsten Jahrhunderts, ja der Moderne so unerläßlich bleiben dürfte wie der Thukydides für die Kenntnis vom Peloponnesischen Krieg.

Daraus erwächst eine gleichermaßen nüchterne und unbestechliche Intellektualität, von der dieser Gesprächsband, vor allem in seinem letzten Abschnitt "Die deutsche Frage und die Rechte" überzeugend Rechenschaft ablegt. Nein, eine deutsche Frage gebe es nicht mehr. Zahlreiche Deutsche wollten Europäer sein und keine Deutschen mehr, "als ob sich das ausschließen würde". Die Existenz einer Rechten gilt Nolte als Selbstverständlichkeit einer liberalen Gesellschaft, für die er im Geist Voltaires eintritt. Die Vermutung, daß das liberal bürgerliche Weltalter selbst nicht von Dauer sein könnte, deutet sich zwischen den Zeilen, ohne jeden apokalyptischen Ton, an. Er sieht eine "liberistische" Gesellschaft heraufziehen, die, rein individualistisch und bindungslos verfaßt, am Ende nicht lebensfähig sein werde. "Zwischen den Fronten" verortet sich Nolte selbst. Die implizit mitgeteilten anthropologischen Einsichten sind eher düster. Die Todfeindschaft - die elementare Frage: "Wer erschlägt wen?" - sieht Nolte als "Naturgrund der Politik" an. Ob dieser gezähmt oder gehegt werden kann, dies bleibt in beunruhigender Weise strittig. Jedenfalls sieht er keine politische Form, die jene Dynamik des Abgrunds dauerhaft außer Kraft setzen könnte.

Am berührendsten und sprechendsten für seine Souveränität ist Noltes Bemerkung: Wenn einer der von ihm hochgeschätzten verstorbenen jüdischen Freunde Ernst Fraenkel oder Richard Löwenthal gravierende Einwände gegen seine Forschungen vorbrächte, "dann wären das für mich gewichtige Einwände, die mich zwar schwerlich zur Änderung meiner Auffassung bringen, aber mir doch viel zu denken geben würden".

Siegfried Gerlich: Im Gespräch mit Ernst Nolte. Einblick in ein Gesamtwerk. Edition Antaios, Schnellroda 2005, 128 Seiten, broschiert, 12 Euro

Foto: Ernst Nolte in seiner Bibliothek: Ein gewisses Maß von Sympathie ist unerläßlich

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