© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/05 17. Juni 2005

Einer imperialen Nostalgie geschuldet
Vor siebzig Jahren: Mit dem deutsch-britischen Flottenabkommen setzte London den Versailler Vertrag praktisch außer Kraft
Rolf Bürgel

Am 18. Juni 1935 schlossen Deutschland und Großbritannien in London einen Vertrag, der die Stärke der deutschen Flotte auf 35 Prozent (U-Boote 45 Prozent) der britischen festlegte. Das Abkommen sorgte international für Aufsehen. Mit ihm legte Großbritannien im Alleingang ohne vorherige Konsultation der übrigen Vertragsmächte den wichtigen Teil V des Versailler Vertrags faktisch ad acta. Wie war es dazu gekommen?

Der Erste Weltkrieg hatte die politische Ordnung des alten Europa völlig zerstört. Selbst das einst mächtige England hatte durch die völlige wirtschaftliche Verausgabung und Verschuldung seine Weltmachtstellung eingebüßt, obwohl äußerlich das britische Kolonialreich sein territoriales Zenit erst nach 1918 erreichte. Eindeutiger Sieger waren die USA, die zur vorherrschenden Weltmacht geworden waren, was sie bis heute geblieben sind.

Großbritannien war finanziell als Weltmacht überfordert

Gleichzeitig war im Fernen Osten ein weiterer Machtfaktor entstanden: Japan. Mit seiner Expansionspolitik in China und im Pazifik bedrohte es zunehmend die britischen und amerikanischen Interessen. So war hier ein neuer Krisenherd entstanden, der zu einem neuen Rüstungswettlauf zu führen drohte. Dessen Notwendigkeit konnte der 1921 gewählte US-Präsident Warren Harding - kaum daß der blutigste Krieg seit dem amerikanischen Bürgerkrieg vorüber war - seinem Volk kaum plausibel machen. Es war daher seine Absicht, die Lage durch eine allseitige Begrenzung der Seerüstungen zu entspannen. Unter starkem politischem Druck der USA kam in erstaunlich kurzer Zeit ein Vertrag zwischen den USA, Großbritannien und Japan zustande, dem schließlich noch Frankreich und Italien beitraten. Er wurde am 6. Februar 1922 in Washington unterzeichnet und bestimmte eine quantitative wie qualitative Begrenzung der Flotten, eine Baupause für Schlachtschiffe von zehn Jahren und das Verbot, Stützpunkte im Pazifik militärisch auszubauen.

Dieser Vertrag erschütterte das britische Weltreich bis in seine Grundfesten - besiegelte er doch das Ende der bisher unbestrittenen britischen Suprematie zur See und die Anerkennung der USA als gleichberechtigte Seemacht. Es war ein hoher Preis, den Großbritannien zahlte. Aber es gab keine Alternative. Das Land war wie auch Frankreich bei den USA überaus hoch verschuldet, und diese ließen keinen Zweifel daran, daß sie die Rückzahlung dieser Schulden ihrer Alliierten im Krieg erwarteten. Doch die Gefahr im Pazifik war mit dem Abkommen nicht gebannt. Die britische Admiralität sah im Fernen Osten nach wie vor den Hauptgefahrenherd. Die "Verlegung der Flotte nach Singapur" wurde in den folgenden Jahren geradezu zu einer fixen Idee und einem Standardthema für die Kriegsspiele an den Marineakademien.

Aber Großbritannien hatte nicht nur Interessen im Fernen Osten, sondern auch im Mittelmeer und im Atlantik. Doch nach Washington verfügte die Flotte nicht mehr über genügend Schiffe, um beiden Aufgaben gerecht zu werden. Es war nicht mehr zu übersehen: Großbritannien war nicht länger die alles und alle bestimmende Weltmacht. Es gab nur eine einzige Chance, das Empire in die neue Zeit zu retten.

Der mit dem Washingtoner Flottenabkommen eingeschlagene Weg des System kollektiver Sicherheit zur Lösung internationaler Probleme mußte konsequent weiter verfolgt werden. Besonders wichtig war, hieran auch das besiegte Deutsche Reich zu beteiligen. Die Genfer Abrüstungskonferenz bot hierzu das geeignete Forum. Doch sehr zum Ärger Großbritanniens verweigerte Frankreich auch nur das kleinste Entgegenkommen, das zu einer deutschen Gleichberechtigung hätten führen können. Nachdem Deutschland seine weitere Teilnahme verweigerte, war die Konferenz praktisch gescheitert.

Danach ging es Schlag auf Schlag. Am 27. März 1933 trat Japan aus dem Völkerbund aus. Am 14. Oktober folgte Deutschland. Ein Jahr später, am 29. Dezember 1934, kündigte Japan fristgerecht den Washingtoner Flottenvertrag und begann mit der Planung eines umfangreichen Flottenbauprogramms. Es wurde eng für Großbritannien und sein Bestreben, der Abrüstung auf multilateraler Basis doch noch zu einem Erfolg zu verhelfen, besonders nachdem Italien zwei neue Schlachtschiffe auf Stapel legte und auch Frankreich ähnliche Pläne hatte. Damit war auch von dieser Seite keine Unterstützung zu erwarten. Zudem warf die Abessinienkrise ihre Schatten voraus, was die britischen Interessen im Mittelmeerraum berührte.

International machte das Abkommen keine Schule

Wenn es der für Ende 1935 vorgesehenen Konferenz der Washington-Mächte nicht gelang, sich auf ein neues Abkommen zu verständigen, drohte das Wiederaufleben eines ungebremsten weltweiten Flottenwettrüstens, das auch Großbritannien dazu zwingen würde, zwölf seiner 15 Schlachtschiffe durch Neubauten zu ersetzen. In dieser äußerst prekären Lage mußte dem Land Hitlers Angebot, den Ausbau der deutschen Flotte auf 35 Prozent der britischen Flottenstärke zu begrenzen, wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels erscheinen. Von besonderem Gewicht war Hitlers Versicherung, dieses Angebot sei "final and permanent".

Obwohl Großbritannien gemeinsam mit Frankreich und Italien auf der Konferenz von Stresa die deutschen Verstöße gegen Versailles noch scharf verurteilt hatte, sah es in Hitlers Angebot doch eine Chance, der internationalen Abrüstung einen neuen Impuls zu geben. Vielleicht gelänge es sogar, Japan unter Hinweis auf die deutsche Haltung wieder näher an die allgemeine Abrüstung zur See heranzuführen. In einer Notiz des Foreign Office hieß es dazu: "Wenn man Deutschland dafür gewinnen könnte (bring Germany into line), hätte das eine gute indirekte Wirkung auf die fernöstliche Situation." In seiner Antwort auf die französische Protestnote schrieb der britische Außenminister Sir Samuel Hoare, daß die britische Regierung nicht den Fehler der französischen wiederholen wolle, Angebote Hitlers zurückzuweisen, um zu erleben, daß Hitler dann sofort ein Vielfaches dessen, was er gefordert hatte, realisieren würde - wie das beim Heer geschehen sei.

So begannen die Verhandlungen nach diversen Vorgesprächen am 2. Juni 1935 in London und führten schon am 18. Juni 1935 zur Unterzeichnung des Vertrages, durch den der Washingtoner Flottenvertrag auch für Deutschland Gültigkeit erlangte. Die Konferenz der Washington-Mächte, die im Dezember 1935 begannen, hat er nicht positiv beeinflußt. Das von Großbritannien so dringend erhoffte allgemeine Abkommen zur weiteren Begrenzung in der Flottenrüstung kam nicht zustande. Aber gerade dadurch erhielt der deutsch-britische Vertrag eine neue, eigentlich unbeabsichtigte Bedeutung.

Die spätere Kündigung hatte starke psychologische Folgen

Als der Flottenbau zum 1. Januar 1937 allgemein wieder freigegeben wurde, war Deutschland das einzige Land, dessen Flottenstärke vertraglich festgelegt war. Daher beurteilten die Briten den Vertrag in seinem konkreten Inhalt auch drei Jahre später noch immer positiv. Schon vor dem Hintergrund der tschechischen Krise schrieb die Admiralität an den britischen Botschafter in Deutschland, Neville Henderson: "Das weitere Bestehen des englisch-deutschen Abkommens ist für uns unter dem Gesichtspunkt unserer zukünftigen Flottenpolitik und Rüstung insofern von großer Bedeutung, als es die Rivalität ausschließt und für unsere Sicherheit ein Element der Gewißheit in die europäische Lage bringt. (...) Tatsächlich ist das Flottenabkommen für unsere Regierung so wichtig, daß jede allgemeine Verständigung zwischen Großbritannien und Deutschland (...) kaum möglich erscheint, falls die deutsche Regierung das Abkommen kündigt." Als Hitler das Abkommen dann am 28. April 1939 tatsächlich kündigte, war das für die Briten eine wichtige psychologische Voraussetzung zum Krieg.

Foto: Londoner Themse-Docks mit Tower Bridge in den dreißiger Jahren: Priorität britischer Politik hatte immer noch die Kontrolle der Meere

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