© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/05 24. Juni 2005

Vorwärts in die Vergangenheit
Bündnis 90/Die Grünen: Für den kleinen Koalitionspartner stellt sich mit dem drohenden Machtverlust die Existenzfrage / Zwischen neuer Linkspartei und SPD
Rolf Stolz

Sie tun noch so, als ob sie an einen Wahlsieg und eine Neuauflage von Rot-Grün glaubten, sie tun noch so, als ob sie wirklich kämpften. Aber nicht nur im Herzen und Hinterkopf, sondern auch in ihrem politischen Einsatz ist die momentane Führungsgruppe der Grünen längst darauf eingestellt, die kalten und harten Oppositionsbänke anzuwärmen. Die Kampfpose dient vor allem dem Ziel, einen Absturz unter die Fünf-Prozent-Marke zu verhindern und die eigenen Leute abzuhalten von unerwünschten Nachfragen, wer denn die Grünen in die Lage hineingebracht hat, auf Gedeih und Verderb angekettet zu sein an die marode Sozialdemokratie.

Die Grünen werden nach dem absehbaren Ende aller Mitregierungsmöglichkeiten weder als Linkspartei noch als Partei der liberalen Mitte eine dauerhafte Chance haben. Links und in der Mitte haben sich andere fest etabliert, die hundertmal bessere Chancen haben, teils über unverbindliche Verbalakrobatik, teils über bedenkenlos opportunistische Lobby-Politik Wählerstimmen, Einfluß und Geldmittel zu mobilisieren.

In dieser Konstellation ist den Grünen der Weg rückwärts zur halben Linkspartei versperrt, die sie in der Ära der "Fundis" Rainer Trampert, Thomas Ebermann und Jutta Ditfurth einige Jahre waren. Selbst wenn eine neue Führung einen Schwenk in diese Richtung versuchen würde - erstens würde ein großer Teil der Mitgliedschaft ihr die Gefolgschaft verweigern, zweitens könnte es durch eine Abspaltung oder durch ein Auseinanderbrechen der Partei dazu kommen, daß keines der Spaltprodukte die nötige kritische Größe besäße, um weiter in das parlamentarisch-politische Geschehen einzugreifen, und drittens ist schlichtweg der Platz der Linkspartei im bundesrepublikanischen Spektrum inzwischen durch das PDS-WASG-Bündnis derartig besetzt, daß für Neuankömmlinge kaum ein Durchkommen ist. Zumal der augenblickliche Kulturtrend nicht wie anno 68 in die linke Richtung weist und die relative Stärke des Bündnisses um Gregor Gysi (PDS) und Oskar Lafontaine (WASG) sich im wesentlichen aus dem Fehlen einer Alternative zum Altparteien-Block und aus einem reflexartigen Reagieren auf besonders üble Holzereien und Hartzigkeiten der Schröder-Regierung speist. Also versuchen zwar die "Heiligen" der Grünen, Claudia Roth und Joseph Fischer, gelegentlich den eigenen Seelenhaushalt (Abteilung Nostalgie) und das Szene-Publikum mit der treuherzig vorgespielten alten Platte zu bedienen, die Grüne seien doch so links, so links ... (Weil die Platte hier einen Sprung hat, wiederholt sie dieses Sprüchlein, bis es keiner mehr hören kann.) Aber selbst Roth ist nicht so dumm und so kurzsichtig, um nicht festzustellen, daß mit dem Werben um Linkswähler für die Grünen kaum ein Blumentopf zu gewinnen ist.

Als die Partei Ende der siebziger Jahre das Gelände zwischen der Schmidt-SPD einerseits und den blutigroten Verbalradikalisten der DKP und den verschiedenen anderen linken Gruppierungen bis hin zu den RAF-Amokläufern für sich eroberte, da war es ihre Stärke, daß sie als erste - anders als die fehlgeschlagenen Versuche von Vorläufern wie der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) und den Demokratischen Sozialisten (DS) - ohne vorzeitige Verengungen, Ausschlüsse und Abgrenzungen genügend geeignete Menschen sammelte, um gegen das Trommelfeuer der Altparteien bestehen zu können. Nicht die teils grob gestrickten, teils fein ziselierten Gedanken ihrer Programmatik, nicht ihre ohnehin geringe Zahl von unter zehntausend tatsächlich aktiven Mitgliedern ermöglichte diesen Erfolg - es war die Übereinstimmung massenhafter Erwartungen und deren wie immer geartete tatsächliche oder scheinbare Erfüllung durch eine unbelastete neue Kraft, die den Grünen den Weg freimachte.

Sie kamen nicht aus dem Nichts, aber kaum jemand fragte danach, woher sie kamen und ob sie denn wirklich wüßten, wohin die Reise gehen solle. Dieses Privileg, das die SPD einst in der Zeit des Sozialistengesetzes nutzen konnte, die CDU/CSU im frühen Nachkriegsdeutschland und die NSDAP am Anfang der dreißiger Jahre, bleibt einer Partei versperrt, die ein Vierteljahrhundert hinter sich hat - immerhin zehn Jahre älter ist als die Konkurrenz von der sich gerade runderneuernden PDS - und geführt wird von einem Führungspersonal, das oft schon in der physischen Erscheinung ein Opfer der sieben fetten Jahre und ein Fall für Diätärzte, Geistheiler oder kosmetische Chirurgen ist.

Und sowenig, wie angesichts der Denkstrukturen und emotionalen Befindlichkeiten der meisten grünen Mitglieder und Funktionäre, die Grünen die Chance nutzen werden, die sie rein theoretisch hätten, den Platz einer demokratisch-patriotischen Rechtspartei zu besetzen - als erste in der Nachkriegszeit mit Erfolg und noch dazu mit dem Bonus unangreifbarer Antifaschisten - so wenig dürften sie bereit und fähig sein, noch einmal zurückzukehren zu den Anfängen, zu den starken Wurzeln ihrer Kraft als Antiparteien-Partei, als Bewegungs- und Aktionspartei.

Niemand sollte die grünen Parteispitzen beneiden angesichts ihrer mittelfristig einigermaßen aussichtlosen Lage und ihrer Wahlfreiheit zwischen langsamem Ausbluten und schnellem Absturz. Der sofortige Rücktritt wäre das hilfreichste, was diese Leute für die Partei tun könnten. Und angesichts der rundum schwierigen und gefährlichen Entscheidungsalternativen ist unter den vielen Empfehlungen, mit Vollkraft in Sackgassen oder gleich in den Abgrund zu steuern, die bessere Parole allemal die der Rückkehr zu den Anfängen, um einen Neuanfang von den grünen Wurzeln her zu wagen. "Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück!" ist nicht ganz ohne Risiken - aber "Weiter so!" bedeutet, das Maximalrisiko mit der kompletten Chancenlosigkeit zu koppeln.

 

Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen.


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