© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/05 01. Juli 2005

Vom Mißbrauch der Opfer für heutige Zwecke
Gedenkpolitik: Gleichsetzung von Verfolgten des NS-Regimes und des 17. Juni 1953 beklagt / Tagungen in Berlin, Potsdam und Sachsenhausen
Ekkehard Schultz

Wie in jedem Jahr gedachten am 17. Juni viele Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ihrer beim Volksaufstandes von 1953 getöteten Leidensgenossen. Nahezu parallel fanden drei Tagungen in Berlin und Brandenburg statt, in denen Stellung gegen die vermeintliche "Gleichsetzung" dieser Opfergruppe mit den NS-Verfolgten bezogen wurde und daher "Gegenstrategien" für die Zukunft entwickelt werden sollten.

Auf Initiative des Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, sowie der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg wurde am 17. Juni im Besucherinformationszentrum der Gedenkstätte Sachsenhausen eine Diskussionsveranstaltung zum Thema "Erinnerungskultur - 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs" abgehalten. Anlaß der Tagung war die angebliche "Akzentverschiebung" zwischen den Opfern des Nationalsozialismus und des Kommunismus: "Die Verbreitung rechtsextremen Gedan­kenguts, der immer noch vorhandene, sogar wachsende Antisemitismus, aber auch die zunehmende Betonung deutscher Familienschicksale im Rahmen eines angeblich Tabus brechenden neuen Opferdiskurses machen es erforderlich, sich verstärkt mit den gegenwärtigen Entwicklungstendenzen der deutschen Erinnerungskultur auseinanderzusetzen.", so die Organisatoren. Nicht nur "der generationsbedingte Wandel", sondern auch "die Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Diktatur als integrativer Be­standteil gesamtdeutscher Erinnerung" habe "in den letzten Jahren zu starken Veränderungen und Verschiebungen der Formen und Schwerpunkte des Erin­nerns geführt". Daher komme der Beantwortung von Fragen wie "Welchen Einfluß hat das Erbe von zwei deutschen Diktaturen auf den Erinnerungsdiskurs in Deutschland? Wie kann der Geschichtsverfälschung durch rechtsextreme Parteien in der Öffentlichkeit überzeugend entgegengewirkt werden?" eine große Bedeutung zu.

Kritik am sächsischen Gedenkstättengesetz

Nur wenige Kilometer entfernt - in Potsdam - nahmen die Referenten bei der gleichfalls am 17. Juni beginnenden Tagung "Perspektiven antifaschistischer Gedenkarbeit" ebenfalls gegen die "Egalisierung der Opfer", die "zunehmende Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus" sowie die "Wiederentdeckung der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges" Stellung. In der Fachhochschule sollten den rund 150 Teilnehmern der von der Lagergemeinschaft Ravensbrück und den Freundinnen des Sachsenhausenkomitees konzipierten Veranstaltung Antworten auf Fragen gegeben werden wie: "Bekommt der Versuch der Gleichsetzung des Stalinismus und deutschem Faschismus durch den EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten weiteren Auftrieb? Wie können wir dieser Geschichtsverklärung entgegentreten?" Die einführende Podiumsdiskussion stand unter dem Motto: "Erinnern heute - Plädoyer gegen die Egalisierung der Opfer".

Einen Schwerpunkt der Kritik stellte in diesem Zusammenhang das vor gut einem Jahr in Kraft getretene Sächsische Gedenkstättengesetz dar. Auf der Grundlage der "doppelten Vergangenheit" vieler Erinnerungsorte - welche durch die unmittelbare Abfolge zweier Systeme mit totalitärem Charakter geprägt wurden - regt es die Schaffung gemeinsamer Institutionen für die verschiedenen Opfergruppen an: zum Zwecke des besseren gegenseitigen Verständnisses und zur Förderung der Aussöhnung. Doch nach Auffassung des Vorsitzenden der "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz", Ludwig Baumann, setze dieses Gesetz lediglich "Verfolgte des Faschismus" mit "Leidtragenden von SED-Unrecht gleich". Baumann warnte davor, daß bei einem Regierungswechsel "das Beispiel aus Sachsen auch auf Bundesebene Schule machen" könnte.

Wie die Alternativen solcher Tendenzen aussehen könnten, stand im Mittelpunkt einer dritten Tagung im nahen Berlin. Auf Initiative der Leiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, waren gezielt Schüler, junge Lehrer und "Experten aus Projekten gegen Rassismus und Antisemitismus" in die "Werkstatt der Kulturen" im Stadtteil Neukölln eingeladen worden. Wie für die Organisatoren der anderen Veranstaltungen kommt auch für Kahane dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus die "oberste Priorität" zu.

"Kein Bock auf das Thema NS-Geschichte"

Am Beginn der Tagung stand der Blick auf die Motivation von Schülern hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Mittelpunkt. Dabei wurde von mehreren Teilnehmern zunächst ernüchtert festgehalten, daß "viele Jugendliche keinen Bock auf das Thema NS-Geschichte" haben. Als Hauptgrund wurde eine allgemeine "Übersättigung" festgehalten; gerade auch "in diesem Jahr, dem 60. Jahrestag der Befreiung von Nazidiktatur, Verfolgung, Menschenvernichtung, Größenwahn und Krieg".

Einen Ausweg sahen die Veranstalter in der "Erweckung einer persönlichen Betroffenheit". Jugendliche sollten  "zusammentragen, was zum Beispiel eine 15jährige im Nationalsozialismus erlebt und erlitten hat und was eine 15jährige heute bedrückt". Danach solle ein Vergleich zwischen beiden Auflistungen erfolgen und anschließend die Betrachtungen auf die Ebene des Jetzigen projiziert werden: "Und was erleben beispielsweise Jugendliche mit jüdischem Glauben heute noch für Ängste, die sich Mitschüler, die evangelisch oder katholisch sind, gar nicht ausmalen können?"

Begleitend sei das "zivilgesellschaftliche Engagement" in der heutigen Zeit in den Mittelpunkt zu rücken. Für die Schüler müsse es vor dem Hintergrund der möglichst "emotional" und auch "cool" vermittelten Geschichte des Nationalsozialismus zur "Selbstverständlichkeit" werden, "Widerstand gegen Rechtsextremisten vor dem Schultor oder in der U-Bahn" zu leisten. Dies beginne schon mit der Demonstration von "Courage" am Zeitungskiosk: Was habe dort "die National-Zeitung im Angebot zu suchen, mit ihrer ideologischen Verherrlichung von Intoleranz?"


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