© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/05 01. Juli 2005

Gelehrter Weg nach Westen
Eine respektable Großstudie Christian Nottmeiers über den politischen Professor Adolf von Harnack
Bernd Reichel

Den roten Faden, der durch Christian Nottmeiers Großstudie über Adolf von Harnack führt, findet der geneigte Leser ganz am Ende, im sprichwörtlichen "letzten Satz": "Indem Harnack die erste deutsche Demokratie nicht nur hinnahm, sondern ausdrücklich unterstützte und den Einklang von Demokratie und Nation betonte, ist er kulturell, theologisch und nicht zuletzt politisch ein wichtiges Stück dieses Weges nach Westen mitgegangen." Daß der seit 1888 in Berlin beheimatete baltische Preuße Harnack vor 75 Jahren, im Juni 1930, während einer Tagung ausgerechnet in Heidelberg starb, dem "Weltdorf" des deutschen akademischen Linksliberalismus, wirkt da wie ein Wink politisch sensibler Vorsehung. 

"Der Weg nach Westen" - damit bezieht sich Nottmeier ausdrücklich auf die zweibändige "Deutsche Geschichte" Heinrich August Winklers, die unter dem Titel "Der lange Weg nach Westen" (München 2000) selbst ein Stück bundesdeutscher Geschichtspolitik geworden ist. Wie es der Zufall will, ist Winkler auch Nottmeiers Doktorvater, und - was ihm als alten Parteigenossen nicht schwergefallen ist - Vermittler eines Promotionsstipendiums von der FriedrichEbert Stiftung. Reizvoll, daß Leben und Werk eines Monarchisten und Repräsentanten der wilhelminischen Gelehrtenwelt mit dem Geld der einstigen "Reichsfeinde" erforscht wird. Herausgekommen ist trotzdem keine sozialdemokratische Vereinnahmung, und erst recht keine der sattsam bekannten Entlarvungs und Anklageschriften, obwohl der spezielle Blickwinkel, den Nottmeier wählt - Harnacks Verhältnis zur deutschen Politik zwischen Reichsgründung und Ende der Weimarer Republik - dazu einlud. 

Zudem gab es auf dem Feld des Politischen gerade bei Harnack in den letzten Jahren den einen oder anderen Versuch, in sein kirchenhistorisches Werk, besonders in die Darstellung der Theologie Marcions (1920), "Antisemitismus" hineinzudeuten. Nottmeier dazu: Harnacks Verwerfung des kanonischen Ranges des Alten Testaments offenbare weder "antijudaistische oder gar antisemitische Tendenzen", sondern stelle vielmehr den Versuch einer "Konzentration des Christlichen auf die Gnadenbotschaft" dar. Mit ähnlich lakonischer Sachlichkeit geht er Harnacks Engagement in der "Gelehrtenpolitik" des Ersten Weltkriegs nach. Der Enthusiasmus des Augusterlebnisses weicht dann bei diesem zum "Kulturkrieg" aufbrechenden Professor schnell einer realistischen Lageeinschätzung, die ihn zu einem der schärfsten Gegner seiner noch alldeutschen Maximalforderungen und "Siegfrieden"Parolen anhängenden Kollegen machte. Auch hier weist er, gestützt auf Klaus Schwabe, wieder kühl jenen volkspädagogisch motivierten, seit Fritz Fischer salonfähigen Hypermoralismus zurück, der zwischen den "Annexionisten" vom Schlage Dietrich Schäfers oder Reinhold Seebergs und den "Gemäßigten" um Harnack und seinen Schwager Hans Delbrück deshalb keinen Unterschied machte, weil angeblich auch letztere Belgien vereinnahmen wollten. Demgegenüber besteht Nottmeier sehr zu Recht darauf, daß "grundlegende" politische Unvereinbarkeiten die Lager trennten. Vor allem die Ablehnung annexionistischer Maßlosigkeit und der von ihrer "großkapitalistischen" Motivierung ausgehenden Zerstörung des "Burgfriedens" mit der Sozialdemokratie lasse es nicht zu, die Gegensätze einzuebnen zwischen Harnack und seinem Widerpart, dem Fakultätskollegen und baltischen Landsmann Seeberg. 

Für Harnacks politische Biographie müssen die Weltkriegsaktivitäten gewiß im Zentrum stehen, als er sich als Gelehrtenpolitiker zwar "Zugang zum Machthaber", zu Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, verschaffen konnte, dessen "Netzwerk" aber nicht fest genug gespannt war, um nach Bethmann Hollwegs Sturz den "liberalen" Max von Baden ins Reichskanzleramt zu befördern. Doch merkt man Nottmeier, der diesen vier Jahren fast hundert Seiten reserviert, dann doch an, daß auf diesem Felde alle Bäume schon geschüttelt sind. Hier liefert der Verfasser aufgrund seiner bewunderungswürdigen Quellenkenntnis einiges zur "dichten Beschreibung" der zahllosen Initiativen und Kontakte, die Harnacks Stellung als "politischer Professor" vergegenwärtigt, er rückt auch die schiefen Bewertungen Fischers und seiner Nachtreter noch einmal gerade, doch das Aktionsfeld, die Rahmenbedingungen dieser "gouvernementalen Gelehrtenpolitik" sind inzwischen hinlänglich bekannt. Überhaupt ist zu beobachten, wie Nottmeiers Arbeit mit fortschreitendem Alter seines Helden etwas die Puste ausgeht. Aber dessen Agieren zwischen 1914 und 1918 kann aufgrund der guten Forschungslage zwangsläufig kaum noch neue Aufschlüsse geben, während die Zeit nach 1918 - als Harnack, als Präsident der KaiserWilhelmGesellschaft immer noch wissenschaftspolitisch einflußreich, zum "konservativen Republikaner" geworden war - fast schon wie eine lästige Pflichtübung anmutet. Wer die Arbeit also mit dem "letzten Satz" beginnt und sich zum jungen Harnack zurückarbeitet, bis in das minutiös geschilderte baltische Milieu der "Barone und Pastoren", das "Literatentum" der deutschen Oberschicht in den russischen Ostseeprovinzen, aus dem der 1851 in Dorpat geborene Kirchenhistoriker stammt, der stößt lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges auf die Goldadern dieser Monographie. 

Angesichts der Tatsache, daß es bis heute keine befriedigende Arbeit zur Geschichte der evangelischen Theologie ab 1850 gibt - Eckard Lessings zweibändige Darstellung (Göttingen 2000/2004) ist mehr eine Zitaten und Namensreihung - muß etwa Nottmeiers überaus kenntnisreiche Schilderung beeindrucken, die den Weg vom "konfessionellen Lutheraner zum undogmatischen Dogmenhistoriker" unter dem Einfluß Albrecht Ritschls nachzeichnet und nebenbei auch noch einen "Beitrag zu Nietzsches Tiefenwirkung" (Johann Hinrich Claussen, FAZ vom 23. Februar) leistet, denn der Leipziger Privatdozent zählte 1876 zu den ersten Lesern der "Unzeitgemäßen Betrachtungen". Ausgezeichnet gelingt ihm auch die Rekonstruktion der selbst Spezialisten verwirrenden innerprotestantischen Fraktionsbildungen und kämpfe auf kirchenpolitischem Gebiet, wo Harnack früh sozialpolitischen Ehrgeiz entwickelt und, im Konflikt mit Adolf Stoecker, seine Vorstellungen vom gesellschaftsreformerischen Beitrag entwickelt, der "christlicher Bildung" bei der evolutionären, am "Westen" orientierten Umgestaltung des preußischen "Soldatenstaates" zukommen sollte. 

Und schließlich Harnack als Zentralfigur der preußischen Wissenschaftspolitik im "System Althoff". Wilhelm von Humboldt, Friedrich Althoff, der "heimliche Kultusminister" der wilhelminischen Ära, nach 1918 vielleicht noch Carl Heinrich Becker - das sind die größten Namen in der Geschichte preußischer Bildungspolitik, und Nottmeier weiß Harnack als Mitbegründer der Kaiser Wilhelm, der heutigen MaxPlanckGesellschaft, als Initiator wissenschaftlicher Großprojekte an der Berliner Akademie und Generaldirektor der Staatsbibliothek als vierten Mann in die ihm zukommende Ahnenreihe zu stellen. Ungeachtet einiger für die Zeit nach 1914 unvermeidlicher Redundanzen, abgesehen auch von der ohnehin erstaunlich geringen Zahl winziger Nachlässigkeiten - etwa wenn ein systematischer Theologe als Kirchenhistoriker figuriert oder der Oberpräsident Adolf von Batocki beharrlich Bartocki heißt - hat hier ein dreißigjähriger Nachwuchshistoriker eine gründliche, quellengesättigte und doch ebenso höchst lesbare wie lesenswerte Biographie einer der bedeutendsten Gestalten der preußischdeutschen Gelehrtenwelt vorgelegt.

Christian Nottmeier::Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890 -1930.Verlag Mohr Siebeck,Tübinggen 2004,582 Seiten,gebunden,89 Euro


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