© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Die Zeit ist abgelaufen
Bundespräsident entscheidet über Neuwahlen / Rot-Grün am Ende / Linkspartei könnte Bürgerlichen schaden
Paul Rosen

Das rot-grüne Projekt stolpert seinem Ende zu. Die Vertrauensabstimmung im Bundestag geriet zur Farce. Während eine gespaltene SPD ihrem Kanzler Gerhard Schröder das Vertrauen wie geplant entzog, versicherte Parteichef Franz Müntefering dem Regierungschef das Vertrauen seiner Genossen. Bundespräsident Horst Köhler wird es nicht leicht haben bei seiner Prüfung, ob er Neuwahlen ausschreibt oder nicht (siehe hierzu auch Seite 7). Aber der Druck auf Köhler ist stark. Umfragen zufolge wollen über 70 Prozent der Bürger Neuwahlen, alle Fraktionen des Bundestages auch. So ist die wahrscheinlichste Variante, daß es am 18. September zu einem Urnengang kommen wird.

Rot-Grün hat abgewirtschaftet. Haushalt, Wirtschaft und Arbeitsmarkt: Negativrekorde, wohin man blickt. Der Kanzler machte in seiner Rede vor der Vertrauensabstimmung noch einmal Werbung für das Projekt, das vieles besser, aber nicht alles anders machen wollte. Dennoch haben SPD und Grüne die Republik mehr verändert als alle Vorgängerregierungen. Das Staatsbürgerschaftsrecht und die Homo-Ehe sind nur die wichtigsten Stichworte.

Da aber die gesellschaftspolitischen Projekte das Bruttoinlandsprodukt nicht steigern und die Arbeitslosigkeit nicht senken, füllte Schröder seine Abschiedsrede vor dem Parlament mit Vorwürfen gegen die Opposition. Die Union sei an den Problemen schuld, weil sie mit ihrer Mehrheit im Bundesrat wichtige Vorhaben der Regierung blockiere.

Die eigenen Genossen packte Schröder weniger hart an. Er giftete zwar gegen seine internen Kritiker, richtete die zentralen Vorwürfe aber gegen seinen früheren Finanzminister Oskar Lafontaine, der zum neuen Linksbündnis gewechselt ist. Das ist eine fadenscheinige Begründung für die Vertrauensfrage. Denn Lafontaine entschied sich erst nach den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen für den Wechsel zum Linksbündnis. Neuwahlen riefen Schröder und Müntefering jedoch schon am Abend der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen aus.

Auch der Blockadevorwurf zieht nicht. In den letzten drei Jahren hat die Union mit ihrer Mehrheit im Bundesrat nur zwei Gesetze verhindert, die für die Republik nicht entscheidend waren. Ganz anders verhielt sich die SPD zu Kohls Regierungszeiten, als sie die von der Union/FDP-Koalition geplante Steuerreform zu Fall brachte. Den Rot-Grünen setzte die Union keine Blockade entgegen. Große Projekte wie die Gesundheitsreform und die gesamte Hartz-Gesetzgebung passierten den Bundesrat.

Es war der scheidende Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, der Schröder und den Regierungsfraktionen die Leviten las und ihnen einen "würdelosen Abgang" bescheinigte. Schulz erinnerte das "inszenierte, absurde Geschehen" im Bundestag an die DDR-Volkskammer: "Auch da wurden die Abgeordneten eingeladen, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen von Staats- und Parteiführung zu folgen." Die Rede von Schulz war das letzte Aufflackern der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Die Grünen, die mit dem Namenszusatz "Bündnis 90" behaupten, das Erbe der Bürgerrechtler bewahren zu wollen, haben es sich längst in den Sesseln der Macht bequem gemacht.

Jetzt ist Köhler am Zuge. Der Präsident steht vor der schwierigsten Entscheidung seiner Amtszeit. Formal ist die Vertrauensabstimmung korrekt gelaufen. Es liegt ein negatives Ergebnis für Schröder vor. Aber noch am Tag zuvor setzte Rot-Grün mit der knappen Bundestagsmehrheit eine ganze Serie von Gesetzen durch. Und Müntefering als Vorsitzender der größten Regierungspartei versicherte im Bundestag, Schröder genieße das Vertrauen der deutschen Sozialdemokraten.

Doch die schöne Fassade ändert nichts daran, daß die Koalition wie eine Bleiplatte über dem Land liegt. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist verbraucht, Ideen gibt es nicht mehr. Es herrscht nicht einmal Stillstand, sondern Rückschritt. Neuwahlen und eine andere Regierung könnten den Konsum ankurbeln, Vertrauen bei den Bürgern begründen und vielleicht Investitionen auslösen.

Nach den bisher bekannten Spekulationen dürfte Köhler den Bundestag auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Er wird übrigens - gerechnet vom Tag der Vertrauensabstimmung - genau 21 Tage bis zur offiziellen Bekanntgabe seiner Entscheidung benötigen. Denn sonst ist der Wahltermin 18. September nicht zu halten. Würde Köhler schneller entscheiden, müßte am 11. September gewählt werden. Und da sind noch in einigen Bundesländern Sommerferien - ein Alptraum für Wahlkämpfer.

Köhler dürfte seine Entscheidung mit scharfer Kritik am Verfahren verbinden und das Parlament auffordern, endlich das Verfassungsproblem vorzeitige Auflösung des Bundestages zu lösen, indem ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments in das Grundgesetz eingefügt wird. Das hatte schon der damalige Bundespräsident Karl Carstens nach der Vertrauensfrage von Kohl 1982 gefordert. Der Appell verhallte ungehört.

Eine weitere Klippe auf dem Weg zu Neuwahlen ist das Bundesverfassungsgericht. Schulz will gegen Neuwahlen klagen. Die Karlsruher Richter könnten Köhlers Entscheidung für verfassungswidrig erklären. Dem Bundespräsidenten bliebe in diesem Fall nur der Rücktritt. Dann hätte Deutschland wirklich eine Staatskrise: Präsident zurückgetreten, Regierung handlungsunfähig und das Parlament in Auflösung.

Das Bundesverfassungsgericht hat es den Regierungen oft schwergemacht. Aber es hat sich in Fragen der Staatsräson nie quergestellt. Karlsruhe hat den Einigungsvertrag mit der DDR selbst in den fragwürdigsten Teilen durchgewinkt, es hat die Euro-Währung gegen den Sachverstand vieler Experten gebilligt. Vermutlich haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts kein Interesse, eine Staatskrise auszulösen.

Also gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach Neuwahlen. Deren Ausgang ist alles andere als sicher. Bei der Vertrauensabstimmung erlebte man eine Kanzlerkandidatin der Union, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen war. Angela Merkel hielt eine schwache Rede, rief sogar versehentlich eine Große Koalition als Ziel der Union aus.

Es mag sogar sein, daß es dazu kommt. Denn die neue Linkspartei, hinter der vor allem die SED-Nachfolgepartei PDS steht, bietet sich als Alternative für verärgerte Wähler an, die sonst zur Union gewechselt wären. In Umfragen legt die Linkspartei zu und könnte den Bürgerlichen womöglich den Wind aus den Segeln nehmen.

Das Parteiensystem in Deutschland bricht auf, und niemand kann garantieren, daß die Union von dem sich abzeichnenden Erdbeben verschont wird. Vielleicht wirkte Angela Merkel deshalb so nervös.


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