© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/05 08. Juli 2005

Stolpersteine auf dem Weg zum 18. September
Vertrauensfrage II: Abgeordnete kündigen Klage an / Anspruch der Wahlberechtigten auf verfassungsmäßige Auflösung
Eike Erdel

Am vergangenen Freitag hat der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, im Bundestag erwartungsgemäß und wie geplant keine Mehrheit gefunden. Von 595 anwesenden Abgeordneten stimmten nur 151 Abgeordnete aus den Koalitionsfraktionen SPD und Grüne in der namentlichen Abstimmung mit Ja, darunter der größte Teil der Grünen-Abgeordneten. 148 Bundestagsabgeordnete enthielten sich, zum größten Teil Sozialdemokraten, die damit der Aufforderung ihres Fraktionsvorsitzenden Müntefering folgten. Auch Bundeskanzler Schröder selbst enthielt sich. Mit Nein stimmten 296 Abgeordnete von CDU/CSU und FDP. Fünf Abgeordnete von SPD und Grünen haben wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht an der Abstimmung teilgenommen. Unmittelbar nach der Abstimmung begab sich der Bundeskanzler zum Bundespräsidenten, um diesem die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen.

Ob der Bundespräsident tatsächlich den Bundestag auflösen wird, ist offen. So selbstverständlich, wie dies die Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien hingestellt haben, nachdem Schröder am Abend der verlorenen Landtagswahlen vom 22. Mai in Nordrhein-Westfalen für den Herbst Neuwahlen angekündigt hatte, ist dies jedenfalls nicht.

In der Geschichte der Bundesrepublik ist es erst zweimal zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestags gekommen, jeweils über den Weg einer gescheiterten Vertrauensfrage nach Artikel 68 Grundgesetz. Zuerst stellte Bundeskanzler Willy Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage und erhielt nicht die notwendige Mehrheit. Noch am gleichen Tag folgte Bundespräsident Gustav Heinemann dem Antrag des Bundeskanzlers und löste den Bundestag auf. Damals hatte Brandt auch tatsächlich keine Mehrheit im Parlament. Die zweite Bundestagsauflösung nach einer Vertrauensfrage erfolgte am 6. Januar 1983 durch Bundespräsident Karl Carstens. Drei Wochen zuvor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage wie beabsichtigt nicht die erforderliche Mehrheit erhalten.

Nach Artikel 68 Grundgesetz kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. Der Wortlaut zeigt, daß der Bundespräsident den Bundestag auflösen kann, aber nicht auflösen muß. Angesichts der von allen Parteien und der ganz überwiegenden Mehrheit der Bundesbürger befürworteten Neuwahlen wird er aber wohl nach Möglichkeit den Bundestag auflösen, wenn die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. Bundespräsident Köhler hat bereits angekündigt, daß er die Frist bis zum 22. Juli zur verfassungsrechtlichen Prüfung voll ausschöpfen wird. Dies wohl aber auch, damit im Falle der Bundestagsauflösung die Wahl - wie von den Bundestagsparteien gewünscht - am 18. September stattfinden kann.

Mehrere Abgeordnete wollen in Karlsruhe klagen

Seine Prüfung wird sich an den Maßstäben orientieren müssen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 16. Februar 1983 zur Vertrauensfrage von Bundeskanzler Kohl aufgestellt hat (siehe auch den Artikel auf Seite 7). Unter Berücksichtigung der dort aufgestellten Maßstäbe kann Köhler den Bundestag nicht auflösen. Dafür daß Bundeskanzler Schröder im Bundestag keine Mehrheit mehr hat, sind keine Anzeichen erkennbar. Die Bundesregierung konnte sich immer auf die Koalitionsfraktionen verlassen, unter anderem auch bei so heiß umstrittenen Projekten wie "Hartz IV". Bis unmittelbar vor Abstimmung über die Vertrauensfrage verabschiedete der Bundestag noch Dutzende Regierungsvorlagen. Die gescheiterte Vertrauensfrage diente damit nur dem politischen Ziel der Neuwahlen im Herbst und spiegelt nicht das Stimmungsbild im Bundestag wider. Allenfalls ist das Stimmergebnis eher ein Hinweis darauf, daß sich der Bundeskanzler auf die Abgeordneten verlassen kann, auch wenn diesen damit der Verlust der Mandate droht.

Selbst in seiner Begründung zur Vertrauensfrage hat Schröder noch einmal hervorgehoben, daß es nur um Neuwahlen geht. Der SPD-Fraktionsvorsitzende bekräftige in seiner Rede sogar, daß der Bundeskanzler das Vertrauen seiner Fraktion hat. Auch Bundesaußenminister Fischer erklärte für die Grünen das Vertrauen in Schröder. Damit sind aber die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine Bundestagsauflösung nicht gegeben. Anders verhielt es sich 1983: Damals kam es aufgrund der Beendigung der Koalition mit der SPD in der FDP tatsächlich zu heftigen Auseinandersetzungen und Abspaltungen. Die neue Koalition aus den Unionsparteien und FDP hatte sich damals nur auf ein wirtschaftspolitisches Notprogramm geeinigt.

Mehrere Bundestagsabgeordnete, darunter der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, haben bereits angekündigt, gegen eine mögliche Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Köhler vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu ziehen. Denkbar sind auch Verfassungsbeschwerden einzelner Bundesbürger.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1993 in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht dem in Artikel 38 Grundgesetz garantierten Wahlrecht zum Deutschen Bundestag eine weitreichende Bedeutung zugemessen, so daß diese Verfassungsnorm wohl auch den Anspruch des einzelnen Wahlberechtigten auf verfassungsmäßige Auflösung des Bundestages beinhaltet.


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