© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Neue Risikogesellschaft
Nicht nur die US-Politik liefert dem Terrorismus ständig neue Motive
Alain de Benoist

Letzte Woche fiel die Wahl zweimal auf London: Am 6. Juli erkor das IOC die britische Hauptstadt zum Austragungsort der Olympischen Spiele 2012, am Tag darauf verübte der internationale Terrorismus einen Anschlag auf das U-Bahn-Netz und einen Bus, der über 50 Menschen das Leben kostete und mehrere hundert verletzte. Ähnlich wie nach den Anschlägen von Madrid am 11. März 2004 behaupten die meisten Kommentatoren, alle Länder seien gefährdet: Morgen könnten die nächsten Bomben in Frankfurt, Berlin oder Paris explodieren.

Das ist höchstens die halbe Wahrheit. Alles deutet darauf hin, daß sich die Anschläge in Spanien und Großbritannien gegen jene Staaten richteten, die sich für eine Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak entschieden hatten. Dort verzeichnet die Zivilbevölkerung jeden Tag fast ebenso viele Tote und Verletzte, wie sie den Terroristen in London zum Opfer fielen. So stellte der russische General und Terrorismusexperte Leonid Iwaschow fest: "Man kann sagen, daß der irakische Widerstand einen Vergeltungsschlag auf dem Territorium des Feindes ausgeführt hat." Theoretisch können alle Länder zu Zielscheiben werden. Tatsächlich ist die Bedrohung in Italien mit Sicherheit größer als in der Schweiz, in Belgien oder Schweden.

Der Zeitpunkt der Anschläge war so gewählt, daß sie mit dem G8-Gipfel bei Edinburgh zusammenfielen. Paradox ist, daß die Terroristen damit US-Präsident George W. Bush in die Hände spielten, der sich kein besseres Argument hätte erträumen können, um seine Verbündeten dazu zu drängen, seine Politik und seinen Führungsanspruch zu akzeptieren.

Jenseits aller Betroffenheit und Empörung müssen die Londoner Anschläge jedoch Anlaß für eine tiefgründige Reflexion über die Logik des Terrorismus sein. Der moderne Terrorist ist der entfernte Nachfahre des irregulären Kämpfers der Partisanenkriege. Der Unterschied liegt darin, daß er auf globaler Ebene agiert, sich also "deterritorialisiert" hat. Der globale Terrorismus ist das Ebenbild unserer Zeit: transnational, mit fließenden Grenzen, in Netzwerken organisiert. Er ist die perfekte Veranschaulichung dessen, was der Soziologe Ulrich Beck als "Risikogesellschaft" bezeichnet. Das Risiko unterscheidet sich von der klassischen Gefahr dadurch, daß es unvorhersehbar, nicht lokalisierbar und allgegenwärtig ist.

Dieser Terrorismus hat kein Gesicht. Wenn jeder neue Anschlag dieselben unbewiesenen Behauptungen, widersprüchlichen Hypothesen und irrwitzigen Spekulationen auslöst, so liegt das daran, daß die Logik des Terrorismus es unmöglich macht, zu erkennen, worum es wirklich geht. Unmittelbar nach den Londoner Anschlägen wurde der islamische Terrorismus (medienwirksam symbolisiert durch die nebulöse "al-Qaida") automatisch für schuldig erklärt - möglicherweise, sogar wahrscheinlich zu Recht.

Doch bald vier Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 steht immer noch nicht fest, wer sie organisierte und wie. Diese Ungewißheit demoralisiert die Menschen noch mehr, und genau darin liegt ein Ziel des Terrorismus. Furcht gebiert Wahnvorstellungen. In der Risikogesellschaft ist es nicht mehr möglich, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Damit werden alle zu potentiellen Verdächtigen, denen mit Mißtrauen zu begegnen ist. Die Bombenopfer sind nie die eigentlichen Ziele des Terrorismus. Dieser will vor allem die Regierungen sowie die öffentliche Meinung treffen. Die Toten und Verletzten sind ein Mittel, um Druck auszuüben und die Moral zu zersetzen. Die Medien, die mit ihren Schlagzeilen dafür sorgen, daß der Terrorismus zum Ereignis wird, machen sich als hauptsächlicher Übermittler seiner Botschaft zu seinen Helfershelfern.

Wir sind unvermeidlich der Feind dessen, der uns zum Feind erklärt. Selbstverständlich muß der Terrorismus bekämpft werden. Moralische Empörung ist dabei jedoch der schlechteste Ratgeber. Auch ungeachtet der bestehenden Verbindungen ist es ein schwerer Fehler, den Islam mit dem Islamismus und den Islamismus mit dem Terrorismus zu verwechseln.

Vor allem gilt es zu begreifen, daß Terroristen zwar Verbrechen begehen, daß sie aber weder "Verrückte" noch "gewöhnliche Kriminelle" noch "Fanatiker" bar jeglicher Rationalität sind. Ihre Taten folgen aus konkreten politischen Gegebenheiten. Solange man diese Gegebenheiten nicht ändert, wird die bloße Festnahme Verdächtiger und die Zerschlagung von Netzwerken den Terrorismus nie ausmerzen. Der Krieg gegen den Irak, der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, die derzeit gegen den Iran gerichteten Drohungen: Auf diesem Nährboden gedeiht der Terrorismus. Die US-Politik liefert ihm ständig neue Motive. Den Terrorismus wirkungsvoll zu bekämpfen, bedeutet seine Ursachen zu behandeln.

"Wenn ihr unsere Städte angreift", sagte Osama bin Laden in einer seiner Videobotschaften, "werden wir eure angreifen." Bush hatte in seiner Neujahrsansprache erklärt: "Die Welt ist sicherer geworden, seit unsere Truppen im Irak einmarschiert sind." Wie es darum bestellt ist, haben die Briten letzte Woche erlebt.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph, ist Herausgeber der Zeitschrift "Eléments" sowie Chefredakteur von "Nouvelle Ecole" und "Krisis".


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