© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Der Feind steht schon innerhalb unserer Mauern
Terror in London: Der Universalismus - blind für kulturelle und ethnische Bindungen - wird zur Achillesferse des Westens
Alexander Griesbach

Die Bekundungen, dem Treiben islamistischer Terrornetzwerke mit aller Entschlossenheit entgegentreten zu wollen, haben mittlerweile etwas Ritualhaftes. So auch bei dem jüngsten Terroranschlag in London, bei dem es über 50 Tote gegeben hat. Zu diesem Ritual gehört der Fingerzeig auf Osama bin Laden und sein al-Qaida-Netzwerk, das auch für das Londoner Massaker verantwortlich gemacht wird.

Schnell fand sich im Internet ein Bekennerschreiben, für das eine Geheimorganisation von al-Qaida in Europa verantwortlich zeichnet. Der Anschlag sei die Antwort auf die Einsätze der britischen Armee in Afghanistan und dem Irak. Desweiteren wurden Anschläge in Italien, Dänemark und anderswo angekündigt. Daß gleichzeitig die Vertreter der G 8-Staaten in Schottland tagten, scheint ein weiterer Beleg für die Täterschaft von al-Qaida zu sein, die sich in der Vergangenheit immer wieder ein symbolträchtiges Datum oder Ereignis für ihre Anschläge wählte.

Mit den Ungereimtheiten dieses Pamphlets, wie etwa einem nicht korrekt zitierten Koranvers, hielt man sich nicht lange auf. Daß die Attentäter höchstwahrscheinlich in England lebende Muslime sind und es auch hier inzwischen "terroristische Zellen" gibt, überrascht nicht. Der britische Geheimdienst recherchierte bereits 2004 Erkenntnisse über radikale Islamisten wie Scheich Omar Baki, die in London Aktivisten für den Dschihad werben.

Islamisten im Kampf mit dem "gottlosen Westen"

Omar Baki steht laut eigener Aussage mit dem "gottlosen Westen" im Kampf. Nach Regierungsdokumenten für das britische Kabinett, die der Londoner Times zugespielt worden sind, versuchen islamistische Extremisten in Großbritannien, "Muslime an den Schulen und Universitäten zu rekrutieren, die noch nicht straffällig oder anderweitig aufgefallen sind". Möglicherweise wird sich Premierminister Tony Blair schon bald damit anfreunden müssen, daß der Feind inzwischen innerhalb der eigenen Mauern- intra muros - steht.

Eine Besinnung darüber, warum jetzt auch Europa zum Zielobjekt terroristischer Anschläge werden konnte, wird vor allem zwei Gründe in den Blick nehmen müssen. Zum einen ist der humanitäre Universalismus zu nennen, der im Westen bis heute die Legitimationsgrundlage für eine unregulierte Zuwanderung bildet und nur noch "Menschen" kennen will. Dieser Universalismus, der blind für kulturelle und ethnische Bindungen ist, wächst sich mehr und mehr zur Achillesferse des Westens aus.

Er schafft nämlich überhaupt erst die Grundlage für das, was heute so gerne als "asymmetrischer Krieg" bezeichnet wird. Der Historiker Michael Stürmer hat in der Welt davon gesprochen, daß dieser Angriff in London eine "Schlacht im asymmetrischen Krieg" gewesen sei, der aus "Haß und Bitternis des militanten Islam" gegen alle vorgetragen werde, die sich nicht unterwerfen würden. Doch das ist wohl eine Fehleinschätzung, denn sie unterstellt dem militanten Islam unkontrollierte Blindwütigkeit. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der eigentliche Vordenker des Begriffes "asymmetrischer Krieg" ist der Chinese Sun Tsu, der etwa 510 v. Chr. ein Buch über die Prinzipien der Kriegführung verfaßt hat.

Ein wesentlicher Aspekt ist die Schwachpunktanalyse des Feindes. Sun Tsu fragt danach, welche Schwächen ein möglicher Feind aufweist. Erst nach Beantwortung dieser Frage werden die einzusetzenden Mittel evaluiert und bestimmt. Ziel ist die Zerrüttung der Moral und Widerstandsfähigkeit des Feindes. Es gilt, ein Maß von Korrumpierung und Zerrüttung zu erreichen, das ohne Einsatz militärischer Mittel zum Zusammenbruch des Gegners führt.

Genau dieser Strategie bedient sich der militante Islam gegenüber dem Westen. Dessen Protagonisten haben begriffen, daß die Ideologie des universalen Humanismus das ideale Einfallstor für einen "asymmetrischen Krieg" bietet. Er ermöglicht es ihnen, quasi unbegrenzt zu allem entschlossene Parteigänger, die jederzeit aktiviert werden können, zu rekrutieren oder in den Westen einzuschleusen.

Eine Einschätzung, die von dem britischen Orientalisten Bernard Lewis bestätigt wurde, der darauf hinwies, daß bin Laden "in der moslemischen Diaspora mehr Helfer als in den islamischen Ländern" habe. Wohl mehr unbewußt als bewußt folgen sie der Maxime Sun Tsus, daß "jene, die wissen, wann sie kämpfen und wann sie nicht kämpfen sollen, siegen" werden.

Wenn man darüber nachdenkt, wie es soweit kommen konnte, dann muß dies in ein Nachdenken über den Zustand des Westens selbst einmünden. Es wird auch diejenigen einbeziehen müssen, die aus falsch verstandener Toleranz heraus selbst erklärten Feinden der Demokratie einen roten Teppich ausrollen und sie willkommen heißen. Hierzu gehört auch der vielbeschworene "interreligiöse" oder "interkulturelle Dialog", der oft genug einer Selbstaufgabe der eigenen Positionen und Werte gleichkommt. Was kulturell trennt, kann durch Dialog nicht übertüncht oder gegenstandslos gemacht werden. Islamisten haben die Verfechter des Dialogs längst als "nützliche Idioten" erkannt, die ihnen goldene Brücken bauen, und treiben sie als gesellschaftliche Dammbrecher vor sich her. Weiter kommen ihnen die Tabuzonen der politischen Korrektheit entgegen, die Widerstandskraft und Selbstbehauptungswillen erodieren und diskreditieren.

Legitimationsgrundlage für den "asymmetrischen Krieg"

Eine derartige Lage würde Sun Tsu als geradezu ideal empfunden haben. Gleiches gilt mit Sicherheit für militante Islamisten. Ihnen spielt ein weiterer Aspekt direkt in die Hände. Dank der kurzsichtigen und nur vordergründig dem Kampf gegen den Terrorismus dienenden US-Kreuzzugspolitik des selbsternannten "Befreiungstheologen" George W. Bush und seiner Neokonservativen konnte sich das Netzwerk der Islamisten erst wirklich global entfalten. Die Menschenrechtsverletzungen der US-Amerikaner auf Guantánamo, im Irak und anderswo liefern eine weitere, willkommene Legitimationsgrundlage für ihren "asymmetrischen Krieg" gegen den Westen und schaffen ständig neue Brutstätten des Terrorismus.

Wenn nach Carl Schmitt "der Feind die eigene Frage in Gestalt" ist, dann ist dieser Feind heute der islamistisch motivierte Terrorismus. Er führt mit aller Härte die Schwäche des Westens, seinen gesellschaftlichen Niedergang, seine anarchisch-nihilistischen Tendenzen und seinen mangelnden Selbstbehauptungswillen vor Augen. Es ist keineswegs ausgemacht, daß der Westen diese Auseinandersetzung erfolgreich besteht.

Nur eines ist sicher: Nimmt der Westen diese Herausforderung nicht als existentiell wahr, dann wird er das verspielen, was zu verkörpern er vorgibt, nämlich die Freiheit.


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