© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

CD: Independent
Drachensteigen
Michael Insel

Im Sommer 1990, so geht die Legende, spielte Vic Chesnutt regelmäßig im 40-Watt-Club in Athens, Georgia. Zu den Stammgästen zählte Michael Stipe. "Ich will mit dir eine Platte machen, bevor du dich zu Tode trinkst", soll er zu dem damals 26jährigen gesagt haben. Noch im Herbst desselben Jahres produzierte der R.E.M.-Frontmann Chesnutts Debütalbum "Little". Auf dieser kargen, ja geradezu primitiven Scheibe, die innerhalb eines einzigen Tages aufgenommen wurde, ist etwas von der puren Energie seiner Auftritte zu spüren - ein Stil, dem er auf den folgenden Alben treu bleiben sollte. Vier davon - neben "Little" noch "West of Rome" (1991), "Drunk" (1993) and "Is the Actor Happy?" (1995) - hat New West Records letztes Jahr wiederveröffentlicht, allesamt mit Bonusmaterial.

Im Laufe der nächsten Jahre machte Chesnutt sich einen Namen auch außerhalb der trendigen Indieszene, aus der sich seine Fangemeinde bislang rekrutierte. 1996 spielten so bekannte Musiker wie Madonna oder die Smashing Pumpkins für die Benefiz-Platte "Sweet Relief II: Gravity of the Situation - The Songs of Vic Chesnutt" (Capitol) Cover-Versionen seiner Stücke ein. Der Erlös kam Musikerkollegen in finanziellen und medizinischen Notlagen zugute (Chesnutt selber sitzt seit einem Autounfall vor 22 Jahren im Rollstuhl).

Der Durchbruch schien ihm sicher, als Capitol ihn noch im selben Jahr unter Vertrag nahm und "About to Choke" produzierte. Der erhoffte kommerzielle Erfolg blieb jedoch aus, die Plattenfirma trennte sich von ihm, und Chesnutt mußte wieder bei Null anfangen. Mit "Silver Lake" (New West, 2003) war dieser Rückschlag überwunden: Chesnutt ließ den schnörkellosen Stil des Folk-Troubadours hinter sich, experimentierte mit Rock-, Jazz-, Blues- und Country-Elementen und schuf einen ganz eigenen und doch vertrauten Klang.

Weil's so schön war, ist sein neues, mittlerweile zwölftes Album "Ghetto Bells" (New West) noch besser geraten. Zur Verstärkung rekrutierte Chesnutt Musiker vom Format des Jazzgitarristen Bill Frisell, des Schlagzeugers Don Heffington oder eines Multitalents wie Van Dyke Parks am Keyboard. (Letzterer kollaborierte einst mit Beach Boy Brian Wilson auf dessen Meisterwerk von 1966/67 "Smile", das Nonesuch Records im vergangenen Jahr endlich aus der unverdienten Versenkung holten.)

Gemeinsam haben sie dieser Platte einen tiefen, üppigen Sound verliehen. "Ghetto Bells" klingt nach der süßen, schweren Schwüle, dem heißen Regen der Südstaaten; die elf hier versammelten Stücke sind musikalische Rätsel voller Leidenschaft, schwarzem Humor und Schmerz, kleine Geschichten auch, die vom guten wie vom bösen Zauber des Alltäglichen erzählen: Lieder wie das von Schlagzeug und Akkordeon getragene Lamento "Ignorant People", "Forthright" oder "Rambunctious Cloud".

Auf den melancholischen Opener "Virginia" mit seinen prachtvollen Streicharrangements und Frisells wehmütigem Gitarrenspiel folgt "Little Caesar": Frisell steigert sich in ein psychedelisches Crescendo hinein, Chesnutt wird von Takt zu Takt stimmgewaltiger in seiner Tirade gegen die Tyrannei. Ruhiger wird es wieder mit den entspannten akustischen Akkorden von "What Do You Mean?" Zu den Höhepunkten dieser Sammlung zählt auch "Vesuvius": eine wunderschöne Melodie, der Text so poetisch wie enigmatisch.

Wer das Glück hatte, Chesnutt jüngst auf Europatournee bei einem seiner kleinen, aber feinen Clubkonzerte zu erleben, weiß um die hypnotische Intensität dieser Musik. Wie er selber sagt: "Es ist, wie wenn man einen Drachen steigen läßt. Hast du einmal den Wind gefunden und den Song an der richtigen Stelle, dann fliegt er einfach."


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