© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/05 15. Juli 2005

Wieder von Null anfangen
Auch der damalige Adolf-Hitler-Schüler und spätere "Zeit"-Journalist Theo Sommer leistet seinen Beitrag zur Reflexion des Jahres 1945
Esther Knorr-Anders

Auch Theo Sommer, von 1973 bis 1992 Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit hat einen interessanten Beitrag zur Reflexion deutscher Zeitgeschichte aufgeboten. Dies soll nach eigener Aussage kein Buch persönlicher Erinnerungen sein. Und tatsächlich ist es vielmehr die - in den Einzelheiten belegbare - Geschichte des Jahres 1945.

Kaum etwas wurde ausgelassen, nicht das "Drama des Untergangs", nicht die Tragödien, die sich im erbarmungslosen Terror der alliierten "Bomberflotten" vollzogen. Es fehlen nicht die mittlerweile zahlreich dokumentierten Geschehnisse beim Einmarsch der sowjetischen Soldateska in den Osten Deutschlands. Aufgefächert wird die Vertreibung (Austreibung nennt Theo Sommer es) der Deutschen aus den "Oder-Neiße-Gebieten, aus Böhmen und Mähren und dem Balkan". Geschildert werden der Wettlauf zwischen Russen und Amerikanern um die Eroberung Berlins, die Aufteilung Deutschlands, die Nürnberger Prozesse. Selbstverständlich fehlt nicht der obligatorische Hinweis, daß "Deutsche Täter waren (...) bevor sie Opfer wurden."

In der Einleitung seines guten und sehr ernsten Titels spricht Theo Sommer kurz von sich selbst. Der Vierzehnjährige wurde, wie so viele seiner Altersgenossen zum Kriegsdienst herangezogen. "Als Adolf-Hitler-Schüler nietete ich frühmorgens eine Schicht lang Steuerungselemente für Hitlers Wunderwaffe, die V-2-Rakete und genoß nachmittags eine harsche Ausbildung zum Volkssturmmann durch die Sonthofener Gebirgsjäger." Danach folgte eine Zeitspanne, die einer Kriminal-Story Konkurrenz böte. Mit zwei Kameraden wurde er in Sondermission nach Berlin entsandt, um dort die Pläne für die "Werwolf"-Aktionen in Bayern abzuholen. Die Jungen gelangten jedoch nicht in die umkämpfte Stadt. Dann mußte er mit 200 Adolf-Hitler-Schülern zur Verteidigung von Ulm ausrücken, die Stadt war aber bereits gefallen. Mit etwa zwei Dutzend Schülern überlebte er in einer entlegenen Almhütte im Allgäu, beendete nach Kriegsschluß die Schule, studierte und wurde Journalist.

"Genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar sein", lautete ein schwarzhumoriges Zitat der Deutschen in den letzten Kriegsmonaten. Theo Sommer geht ausführlich auf die Frage ein, ob die Deutschen sich am 9. Mai 1945 "befreit" fühlten. Er läßt Zeitzeugen unkommentiert zu Worte kommen. Ja, man fühlte sich vom Krieg befreit. Das Gefühl der Befreiung galt also mehr dem herbeigesehnten Kriegsende als der Tatsache, daß die NS-Herrschaft Vergangenheit geworden war: Keine pausenlos einfliegenden Bomberflotten, keine mörderischen Kampfhandlungen! Befreiung im Wortsinne empfanden alle politischen Häftlinge und 300.000 jüdische Überlebende der Konzentrationslager des Dritten Reiches. Acht Millionen deutsche Flüchtlinge und Millionen sogenannter "displaced persons" - hauptsächlich ehemalige Zwangsarbeiter, aber auch osteuropäische Flüchtlinge aus dem Einzugsbereich Stalins - überschwemmten Deutschland. Alle wollten essen und viele Unterkunft finden. Eine Bewährungsprobe für alle. Sie wurde bestanden.

Würdigende Worte äußert Theo Sommer über die deutsche Kriegsmarine. Etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge, und Verwundete wurden aus den Hafenstädten der Ostsee evakuiert. 1.081 Schiffe waren im Einsatz. Durch Bomben, Torpedos, Minen gingen 245 Schiffe verloren, geschätzt 33.000 Menschen ertranken. Eines der grausigsten Unglücke war der Untergang des früheren KdF-Luxusschiffes "Wilhelm Gustloff". Sie verließ am 30. Januar 1945 Gotenhafen, mit weit über 6.000 Menschen an Bord zog sie ihren Weg durch den Schneesturm. Um 21.16 Uhr trafen das Schiff drei Torpedos des sowjetischen U-Boots S-13. Nur wenige konnten aus der See geborgen werden. Ende Februar lief auch die "Eberhardt Essberger" von Gotenhafen aus. Auf ihrer Fahrt passierte sie die Untergangsstelle der "Gustloff". Unter den an Bord befindlichen Schwerverletzten, Frauen und Kindern herrschte Totenstille. Ein stilles Kind war die Autorin dieser Zeilen.

Zu den beklemmenden Schilderungen des Buches zählen die letzten Tage im Führerbunker der Reichskanzlei. In den unterirdischen Räumen heiratete Hitler seine Lebensgefährtin Eva Braun. ln seinem am 29. April 1945 unterzeichneten persönlichen Testament heißt es: "Ich selbst und meine Gattin wählen, um der Schande des Absetzens und der Kapitulation zu entgehen, den Tod. Es ist unser Wille, sofort an der Stelle verbrannt zu werden, an der ich den größten Teil meiner täglichen Arbeit im Laufe eines zwölfjährigen Dienstes an meinem Volk geleistet habe." Und so geschah es. Am 30. April zogen sich beide in den Privatraum zurück. Eva Braun schluckte eine Zyankali-Kapsel, Hitler erschoß sich.

Lesen wir zum Schluß noch einmal Theo Sommer zum weiteren Dasein in Deutschland: "Allmählich begann sich das Leben in den Ruinen zu normalisieren. Die Menschen richteten sich in der Trümmerlandschaft ein, gewöhnten sich an den schwarzen Markt mit seiner Zigarettenwährung, fanden sich mit der Besetzung ab, bauten neue politische Verbände, neue Verwaltungen auf. Sie krempelten die Ärmel hoch, spuckten in die Hände und gingen an die Arbeit. Unter den widrigsten Bedingungen lernten sie, Initiative zu entfalten, zu improvisieren, hauszuhalten. Sie lernten sich zu bescheiden und sich durchzuschlagen. Leicht war es nicht."

 Theo Sommer: 1945. Die Biographie eines Jahres. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 288 Seiten, gebunden, Abbildungen, 17,90 Euro


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