© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/05 22. Juli 2005

Die größte Attacke seit dem Zweiten Weltkrieg
Großbritannien: Nach den Anschlägen von London kämpft die multikulturelle Gesellschaft um ihre Existenz / Streit um Einfluß des Irak-Kriegs
Sigrun Saunderson

Auch wenn "die größte Attacke auf britischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg" (The Sun) London zunächst in einen Schock versetzte, hatte Premierminister Tony Blair noch am 7. Juli die unbeugsame Haltung demonstriert, mit der Großbritannien den islamischen Terroristen begegnen sollte: "Wenn sie uns einschüchtern wollen, werden wir uns nicht einschüchtern lassen. Wir werden mit Durchhaltevermögen und Integrität beweisen, daß unsere Werte die ihren überdauern werden."

Die Attentäter von London sind nach Meinung von Blair aber nicht vom Islam oder konkreten politischen Überzeugungen getrieben worden, sondern von einer "Ideologie des Bösen". Es sei "kein Zusammenstoß der Zivilisationen". Der Irakkrieg spiele angeblich auch keine Rolle: "Wenn sie durch den Irak angetrieben werden, warum bringt dieselbe Ideologie dann auch Iraker durch Terror um - trotz einer gewählten irakischen Regierung?", fragte Blair.

Linke verlangen sofortigen Abzug der Irak-Truppen

Der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone erinnerte daran, daß die Terroristen nicht die gesamte moslemische Bevölkerung repräsentierten, die zum größten Teil aus anständigen Staatsbürgern bestünde. Muslimische, christliche, jüdische und Sikh-Kirchenführer versicherten der Öffentlichkeit, daß sie "Schulter an Schulter" gegen die Terroristen antreten würden. Auch sämtliche Medien schlossen sich diesem Aufruf zur Solidarität mit gemäßigten Muslimen an. Das "Muslim Council of Britain" warnte Großbritannien davor, sich von den Terroristen in zwei gegnerische Lager aufspalten zu lassen. Denn genau das sei das Ziel solcher Terrorakte.

Die 7,4-Millionen-Metropole an der Themse hat sich inzwischen vom ersten Schock erholt, obwohl sich am vergangenen Montag die Zahl der Todesopfer auf nun 56 erhöht hat. Nur 40 sind bislang identifiziert, etwa 700 Verletzte hat es gegeben. Kritiker, die aus Respekt vor den Opfern in der ersten Woche noch geschwiegen hatten, nehmen nun kein Blatt mehr vor den Mund.

Tory-Führer Michael Howard forderte eine Untersuchung der Gründe, warum der Anschlag nicht verhindert werden konnte. Die britischen Kriegsgegner - allen voran der aus der Labour-Partei ausgetretene Unterhausabgeordnete George Galloway, zahlreiche Liberaldemokraten und Labour-Linke wie Ex-Entwicklungshilfeministerin Clare Short - sehen in der Irak-Invasion die Ursache für den Terrorismus und verlangen den sofortigen Abzug der britischen Truppen.

Das Ausland - speziell Frankreich - verurteilt Großbritanniens offene Gesellschaft, die den "Extremisten aus aller Welt eine Basis bietet, von der aus sie ungestört rekrutieren und Spenden sammeln können". Solche und die Kritik von rechten britischen Politikern wies die britische Regierung empört zurück. Man habe zwar stets eine "großzügige" Asylpolitik vertreten, sei jedoch nie "ultraliberal" gewesen, erklärte der Schatzkanzler und Minister für Verfassungsfragen, Charles Falconer, letzten Sonntag. "Unsere Asylpolitik lautet: Wer Angst vor Verfolgung hat, hat das Recht, hierherzukommen", bekräftigte Falconer in einem BBC-Interview.

Aber auch blanker Haß bricht inzwischen aus: Rechtsradikale Gruppen und Einzelpersonen organisieren "Vergeltungsschläge" gegen vermeintliche Terroristen und ihre Unterstützer. Über 500 Übergriffe auf Muslime wurden innerhalb einer Woche gemeldet - zehnmal so viele wie vor den Bombenanschlägen von London.

Obwohl der britische Geheimdienst MI5 in den letzten drei Jahren angeblich acht Anschläge auf London verhindern konnte, steht er nun ebenfalls stark in der Kritik. Der MI5 hatte zunächst erklärt, daß das Attentat "aus heiterem Himmel" und ohne jegliche Hinweise gekommen war. Doch schon vor einem Jahr prophezeite der radikale Islamistenführer Omar Bakri Mohammed eine bevorstehende "große Operation" in London.

Laut Observer sollen pakistanische Anti-Terror-Einheiten die britischen Behörden schon im Mai 2005 gewarnt haben, daß Pläne für Angriffe auf Londons Pubs, Restaurants und möglicherweise Bahnhöfe existierten. Dennoch wurde die Terror-Alarmstufe wenige Wochen vor den Anschlägen auf den niedrigsten Stand seit September 2001 reduziert. Auch wurde inzwischen öffentlich, daß zumindest einer der Selbstmordattentäter dem Geheimdienst bekannt war, er aber als " nicht bedrohlich" eingestuft wurde.

Al-Qaida-Sympathisanten werden immer mehr

Wohl am erschreckendsten war die Erkenntnis, daß die Bomben von äußerlich perfekt integrierten Einwandererkindern mit britischer Staatsbürgerschaft begangen wurden. Schon im letzten Jahr warnte eine geheime Studie des Innen- und Außenministeriums vor einem besorgniserregenden Anstieg an solchen "hausgemachten" Al-Qaida-Sympathisanten. Zahlreiche junge Muslime, die oft schon in zweiter oder gar dritter Generation in Großbritannien lebten, liefen in den letzten Jahren zu den Extremisten über. Der Irakkrieg soll dabei entscheidender Auslöser für den Anstieg der Radikalenzahl gewesen sein. Das Dossier vermutet, daß inzwischen Hunderte solcher Al-Qaida-Sympathisanten in Großbritannien auf ihren Einsatz warten.

Das renommierte Royal Institute of International Affairs (RIIA/Chatham House) wird noch deutlicher: "Der Krieg im Irak hat Al-Qaida Auftrieb gegeben", heißt es in einer aktuellen Studie. Die Experten widersprechen Blair, wonach der Irakkrieg nichts mit den Londoner Anschlägen zu tun habe. Der Irakkrieg habe die Rekrutierung islamistischer Kämpfer und die Beschaffung finanzieller Mittel für das Terrornetzwerk Al-Qaida angekurbelt, urteilen die RIIA-Experten.

Zudem sei der Irak ein ideales Planungs- und Trainingsgebiet für Terroristen. Der Irakkrieg habe politische Verbündete gespalten und Ressourcen gebunden, die für die Unterstützung des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und die Fahndung nach Al-Qaida-Führer Osama bin Laden sinnvoller eingesetzt worden wären. Zentrales Problem der britischen Anti-Terror-Strategie sei, daß die britische Regierung den USA alle Entscheidungen überlassen habe. Als engster Verbündeter der USA sei Großbritannien "besonders in Gefahr".

Zwei Drittel der Briten sehen dies übrigens ähnlich. Laut einer letzten Dienstag vom Guardian veröffentlichten Umfrage sind 33 Prozent der britischen Bevölkerung davon überzeugt, die Entscheidung von Premier Blair zur Beteiligung am Irakkrieg trage "viel Verantwortung" für die Bombenanschläge. Weitere 31 Prozent sehen "ein bißchen Verantwortung". Nur 28 Prozent der Befragten erklärten, Blairs Entscheidung zum Einmarsch in den Irak im März 2003 sei nicht für den Terror vom 7. Juli in London verantwortlich.

Die britische Regierung plant ungeachtet dessen den Übergang zu einer neuen Anti-Terror-Strategie, die im Schatten der Attentate vom 7. Juli besonders dringlich geworden ist. Schärfere Gesetze sollen die Einreise von religiösen Extremisten verhindern. Man spricht nun offen von der Ausweisung islamischer Haß-Prediger. Die Teilnahme an Trainingslagern für terroristische Praktiken und der Gebrauch von "gefährlichen Substanzen" im In- oder Ausland sollen strafbar werden. Ein Gesetz gegen die "indirekte Anstiftung zu Terrorakten" steht kurz vor der Verabschiedung.

Doch kein Gesetz der Welt kann verhindern, daß jemand mit einer Bombe im Rucksack in einen Bus einsteigt. "Daher müssen auch die zugrunde liegenden Probleme gelöst werden", meint Labour-Chef Blair. Der gemäßigte Islam soll gefördert, der wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligung der muslimischen Bevölkerung entgegengewirkt werden. Paul Goggins vom britischen Innenministerium verspricht eine "neue Art, die Britishness zu feiern". Er will eine multikulturelle und multireligiöse Identität des Landes aufbauen. Goggins schlägt auch eine Staatsbürger-Feier für alle 18jährigen - egal welcher Herkunft - vor, um ihre Zugehörigkeit zu Großbritannien zu unterstreichen.

Als Verbündeter der USA "besonders in Gefahr"

Diese Maßnahmen können - wenn überhaupt - bestenfalls in der Zukunft Wirkung zeigen. Doch die Polizei vermutet, daß es Jahrzehnte dauern wird, bevor das bereits bestehende islamische Terrornetzwerk in Großbritannien geknackt wird. Die Behörden sind dabei auf die Hilfe der muslimischen Öffentlichkeit angewiesen. So schlägt Ian Blair, Chef der London Metropolitan Police, eine vertrauliche "Muslim-Hotline" vor, über die Muslime Informationen zu "verdächtigen Individuen" aus ihrem Umfeld an die Polizei weitergeben können. "Wenn ein zuvor westlich eingestellter Sportbegeisterter plötzlich in weißen Gewändern von einem Auslandsaufenthalt zurückkommt und über den Dschihad spricht, dann müssen wir das wissen", so der Londoner Polizeichef.

In mehrtägigen Gesprächen wollen Blair und die beiden Oppositionsführer Michael Howard und Charles Kennedy von den Liberaldemokraten nun einen gemeinsamen Weg finden. Howard plädiert für einen "ehrlichen Konsens", und auch die Liberaldemokraten versprechen eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierung, um die nationale Sicherheit zu verbessern. Der alte Kleinkrieg des Wahlkampfes ist - für den Moment - vergessen.

Verteidigungsminister John Reid kündigte unterdessen an, innerhalb der kommenden zwölf Monate mit dem "schrittweisen" Truppen-Abzug aus dem Irak zu beginnen. Weder Großbritannien noch die USA hätten "langfristige imperiale Ansprüche" im Irak, erklärte Reid im Sender CNN. Die britischen Truppen blieben nur so lange, bis die irakischen Sicherheitskräfte genügend ausgebildet seien und die Lage unter Kontrolle hätten. Wann das sei, wollte der Labour-Minister nicht verraten.

Im britischen Sender Sky News war Reid angesichts der zahlreichen neuen Anschläge mit Hunderten Toten weniger optimistisch: Er müsse eingestehen, daß sich die Sicherheitslage im Irak derzeit wieder verschlechtere.


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