© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/05 22. Juli 2005

Verheimlichte Verbrechen in Ostsachsen
Durch familiäres Schicksal animiert, hat Theodor Seidel ein blutiges Kapitel Nachkriegsgeschichte aufbereitet
Dirk Jungnickel

Niederkaina, ein Dorf nordöstlich von Bautzen am 22. April 1945: In einer Scheune auf dem Gut des Majors von Lobenstein haben sich fast 200 gefangengenommene Volkssturmmänner für die Nacht eingerichtet. Das große Scheunentor ist verschlossen, ebenso der hintere Ausgang. Auf dem Hof die Bewacher: junge Soldaten des polnischen Heeres unter dem Kommando eines Sergeanten der 1. Ukrainischen Front. Über einem Feuer hängt ein Kessel, in dem sie sich ihre karge Mahlzeit zubereiten. Für die Volkssturmmänner in der Scheune ist der Krieg nach zwei oder drei Monaten zu Ende. Die Optimisten sehen sich bald wieder bei ihren Familien. Ihnen, den "Hilfssoldaten", dürfte "Sibirien" erspart bleiben. Ihre Einheit hatte sich in der Nähe der Strafanstalt ("Gelbes Elend") ergeben müssen, weil sie - schlecht bewaffnet - gegen den Ansturm der Sowjets keine Chance hatten. Für die meisten ist zwar der Krieg ohnehin verloren, aber der Widerstand gegen den Ansturm der "Bolschewisten" war ihnen patriotische Pflicht.

Was sie an diesem Spätnachmittag des 22. April nicht ahnen: Deutsche Verbände haben die durchgebrochenen gegnerischen Einheiten nahezu eingekreist. Nur wenigen Truppenteilen wird der Ausbruch gelingen. Und Gefangene sind dabei ein lästiger Ballast. Auf den Hof knattert ein Krad mit einem sowjetischen Offizier auf dem Sozius. Hektische Befehle, unverständlich für die Späher an den Scheunenluken, tönen über den Hof. Der Offizier zeigt auf das Feuer unter dem Kessel. Die Aufbruchsvorbereitungen auf dem Hof beunruhigen die Männer in der Scheune, zumal außerdem unweit von ihrem Standort Geschützdonner einsetzt.

Plötzlich zieht eine Qualmfahne über die Köpfe. Kurz danach knistert in einer Ecke Feuer. Rasend frißt es sich durch das trockene Stroh. Durch eine Öffnung im Giebel fliegt ein brennender Bezinkanister. Der Qualm beißt in den Augen, die Männer drängen sich in panischer Angst auf die noch rauch- und feuerfreie Scheunenseite. Einer schleppt einen Balken heran, andere fassen zu und versuchen, die hintere Scheunentür aufzurammen. Das gelingt. Nach Luft japsend gelangen einige wenige nach draußen. Sie werden von Salven aus Maschinenpistolen niedergemäht. Inzwischen schlagen die Flammen aus dem Dach. Die furchtbaren Schreie aus der Scheune verebben nach und nach in wenigen Minuten. Nur zwei der Ausgebrochenen überleben das Massaker. Die Täter machen sich über die Felder Richtung Nordosten davon.

So oder ähnlich könnte es sich abgespielt haben. Die zumeist völlig verkohlten Leichen sind später nicht zu identifizieren. Für den Volkssturm waren in den letzten Monaten des Krieges keine "Hundemarken" ausgegeben worden. Einer der Überlebenden - Fleischermeister aus Thüringen - wird bis weit in die fünfziger Jahre hinein an jedem Jahrestag Blumen an der Scheunenruine niederlegen. Bis ihm SED-Funktionäre diese Geste des Gedenkens verbieten.

Theodor Seidel, damals vierzehn Jahre alt, hatte seinen Vater noch wenige Tage zuvor mit seiner Mutter in Bautzen, wo er in der Strafanstalt kaserniert war, besucht. Einem Zufall verdankt er es, daß er erfuhr, auf welche Weise sein Vater umgekommen war. Es hat ihn ein Leben lang begleitet. Seidel, seit 1969 Vorsitzender Richter einer Großen Strafkammer in Berlin-Moabit, wollte nach seiner Pensionierung dem Schicksal seines Vaters auf den Grund gehen. Die Massaker von Niederkaina, wo außerdem noch Erschießungen stattfanden, erwiesen sich jedoch nur als Spitze eines Eisberges. Zu seiner Überraschung fand er in fast allen Dörfern Ostsachsens Zeugnisse von Kriegsverbrechen an deutschen Zivilisten oder Gefangenen. Gemeindepfarrer dokumentierten sie in Sterbebüchern. SED-Funktionäre, die das Geschehen mit Sicherheit dem Vergessen anheimgegeben hätten, wagten offenbar nicht, Kirchendokumente zu beschlagnahmen.

Seidel legt eine flächendeckende Dokumentation über Plünderungen, Vergewaltigungen sowie völkerrechtswidrige Tötungen von Zivilpersonen und deutschen Kriegsgefangenen in dem betreffenden Gebiet vor. Er belegt eine Zahl von 1.027 getöteten Zivilisten und 552 umgebrachten deutschen Kriegsgefangenen in einem Zeitraum von etwa drei Wochen. Daß es in den letzten Kriegstagen derart unentschuldbare Übergriffe sowjetischer - und hier vor allem polnischer Einheiten - diesseits der Oder gegeben hat, wurde bisher in der Kriegsgeschichtsschreibung völlig vernachlässigt.

Ausführlich geht Seidel auf Veröffentlichungen diverser Historiker ein. Von einigem historischen Interesse dürften solche sein, die eindeutig Geschichte fälschen, indem die Zeitabläufe einfach verdreht werden. In Großröhrsdorf brachten Polen mindestens vierzig Zivilisten um, daraufhin sind polnische Verwundete von Deutschen erschossen worden. In einer Dissertation (Dieter Rostowski, Dresden 1983) "verließ" aufgrund des "barbarischen Vorgehens" der SS die polnischen Soldaten "die Geduld".

Seidel geht akribisch Kriegsberichten und Dokumenten auf den Grund und versucht - wo möglich - sie mit Aussagen noch lebender Zeitzeugen zu untermauern. Vergleichend analysiert er und filtert die Wahrheit heraus. Dort wo das nicht gelingt oder nicht gelingen kann, enthält er sich eines endgültigen Urteils. Stets um Sachlichkeit bemüht, verzichtet er weitgehend auf Kommentare. Die grauenhaften Tatsachen sprechen für sich.

Eine Zeitzeugin berichtet beispielsweise: "Wir haben seinerzeit alle auf einem Grundstück in Bischheim gewohnt. Im April 1945 kamen polnische Truppen nach Bischheim. Auch auf unserem Hof erschienen polnische Soldaten. Als der Großvater aus dem Haus kam um den polnischen Soldaten Zigaretten zu geben, ist er von einem Polen sofort durch mehrere Bajonettstiche in den Rücken und in die Seite gestochen worden. Er war sofort tot. (...) Wir haben den toten Großvater ins Haus getragen. In dieser Situation hat ein polnischer Soldat vom Nachbargrundstück auf uns geschossen. Der Schwiegervater wurde getroffen und war sofort tot. Das alles hat nur wenige Minuten gedauert." Wohlgemerkt: Das Dorf war eingenommen, die Kampfhandlungen vorüber. Bei dem Großvater handelte es sich um einen 81jährigen Greis.

Die Front verschob sich in den letzten Kriegstagen in dem untersuchten Gebiet nahezu stündlich. Ursachen und Wirkungen sind kaum auseinanderzuhalten. Entmenschlichung fand sicher auf beiden Seiten statt; das verliert der Autor nie aus den Augen. Aber er räumt in seiner Chronik des Schreckens mit der Legende von den edlen Befreiern auf. Was Seidel zutage fördert, desavouiert sowjetisches und polnisches Militär und erklärt die massiven Vorbehalte der Bevölkerung gegen die später verordnete Freundschaftseuphorie in der verblichenen DDR. Die geschilderten Tötungen und Mißhandlungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten sind eindeutig Kriegsverbrechen im Sinne des Statuts des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals (Art. 6 Abs. 2 lit b). Hier handelt es sich um Erklärungen bestehender Kriegsgesetze wie der Haager Konvention und des Genfer Abkommens.

Das an sich kluge Vorwort des Herausgebers konzediert die Katastrophe für die Betroffenen, aber sieht die weltgeschichtliche Bedeutung der Befreiung vom Faschismus nicht im "mindesten beeinträchtigt". Angesichts der verdienstvollen Chronik Seidels und dem Wissen um die Verbrechen der Sowjets, die dem Kriegsende in der SBZ/DDR folgten, scheint jedoch diese These undifferenziert. Was die spätere SBZ/DDR betrifft, ist hier der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben worden. Und um auf die Befreiungsdiskussion abzuheben: Befreiung impliziert Freiheit, und zu ihr zu verhelfen ist ein totalitäres kommunistisches Regime - wie sich erwiesen hat - nicht in der Lage.

Der immer wieder gebrachte Einwand, die Deutschen hätten nur zurückbekommen, was sie in anderen Ländern angerichtet hatten, muß endlich und ein für allemal zurückgewiesen werden. Zum einen geht er von der Kollektivschuldthese aus, zum anderen ist er moralisch nicht haltbar: Verbrechen können nicht mit Verbrechen vergolten werden.

Theodor Seidel ist es in mühevoller Kleinarbeit gelungen, einen weißen Flecken deutscher Geschichte zu tilgen. Ralph Giordano hat gleiche Öffentlichkeit für Verbrechen von Deutschen wie für Verbrechen an Deutschen unter Wahrung der Chronologie gefordert. Dem ist Seidel durchaus gerecht geworden.

Foto: Wehrmachts-Kriegsgräber aus dem Mai 1945 in Bärenburg, Ostsachsen: Eindeutig Kriegsverbrechen

Theodor Seidel: Kriegsverbrechen in Sachsen. Die vergessenen Toten von April/Mai 1945. Leipziger Universitäts-Verlag, Leipzig 2005, 211 Seiten, broschiert, 19 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen