© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/05 22. Juli 2005

Ein Anschein von Rechtlichkeit
Vor sechzig Jahren fand die Potsdamer Konferenz statt / Der Beschluß der Vertreibung der Ostdeutschen wurde nur noch einmal bestätigt
Stefan Scheil

Frieden zu schließen ist stets eine schwierige Kunst gewesen, im zwanzigsten Jahrhundert aber eine fast verlorene Kunst. Zwischenstaatliche Verträge über ein Kriegsende setzen ein Rechtsbewußtsein voraus, das dem Völkerrecht eine eigene Würde einräumt und es nicht nur als beliebig manipulierbares Machtmittel zur Ausschaltung des Gegners betrachtet.

In diesem Rahmen müssen die Forderungen des Siegers zustimmungsfähig sein und können nicht in Verbrechen kulminieren, die durch keine Unterschrift legalisiert werden können. Als die Ziele sich in den Auseinandersetzungen des Industriezeitalters ins Maßlose steigerten, wurde der Friedensvertrag deshalb fast zwangsläufig durch das Diktat ersetzt und fiel schließlich ganz fort. Verhandlungen gab es bereits nach dem Ersten Weltkrieg nicht. 1945 legten die Sieger dann gar keinen Wert mehr darauf, den geschlagenen Gegner irgendwie zu beteiligen. Hatte man sich 1919 noch die Mühe gemacht, Deutschland eine Unterschrift unter den Versailler Vertrag aufzunötigen, behaupteten die alliierten Entscheidungsträger nun, Deutschland existiere als juristisch handlungsfähige Einheit nicht mehr. Das symbolische Kriegsende auf der Potsdamer Konferenz, die sich in diesen Tagen zum sechzigsten Mal jährt, schuf daher auf Dauer eine rechtliche Grauzone.

Der Potsdamer Gipfel, offiziell als Konferenz von Berlin bezeichnet, gehörte zu einer ganzen Reihe von Treffen der Weltmächte während des Krieges. Casablanca, Teheran und Jalta markierten die vergleichsweise exotischen Konferenzorte. Dies war eine neue Form der symbolischen Kriegsführung. Über die persönliche Begegnung von Staatschefs sollte öffentlich gegenseitiges Vertrauen signalisiert werden, was in einer Ära, die noch keine düsengetriebenen Interkontinentalflüge kannte, etwas Neues darstellte. So war es außerhalb von Monarchien nicht üblich, daß Staatschefs sich persönlich kannten. Anders als in der Nachkriegszeit war die öffentliche Präsenz der Machthaber ohnehin begrenzt. Amerikas Präsident Roosevelt konnte daher der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber lange verborgen halten, daß er im Rollstuhl saß. Er nutzte das Radio als sein Medium, seine Rundfunkansprachen am Kamin waren ebenso berühmt wie gefürchtet.

Über ganz andere Möglichkeiten verfügte Josef Stalin, der für Nichtkommunisten und Diplomaten fremder Staaten lange Jahre völlig unsichtbar blieb. So boten die Kriegsgipfel eine neuartige Gelegenheit, sich gegenseitiger Loyalität zu versichern und die Meinungsbildung zu steuern. In Jalta und Potsdam konnte dann zum informellen Handel mit dem Land anderer Leute übergegangen werden, dem Kerngeschäft des Zeitalters.

"Amerikas Grenze liegt am Rhein." Mit diesem Anspruch hatte Franklin Delano Roosevelt das Jahr 1939 begonnen und bald darauf öffentlich eine lange Liste an "kleinen Ländern" folgen lassen, für deren Unabhängigkeit sich Washington jenseits dieser Flußlinie noch interessierte. Dazu gehörte praktisch der Status quo in ganz Europa, zudem der Nahe Osten. Das bedeutete nebenbei eine Kampfansage an die Kolonialpraxis der Westmächte, denn genannt waren Länder wie Syrien und der Irak, die unter französischer und englischer Kolonialpraxis eine Scheinunabhängigkeit genossen, der Roosevelt gern ein Ende bereitet hätte. Ohne sein Einverständnis hatte in jedem Fall kein Länderschacher stattzufinden, das gehörte zu den Bedingungen, die er für den amerikanischen Kriegseintritt genannt hatte.

Da Roosevelt wußte, an wen hier in erster Linie zu denken war, hatte er Churchill 1941 genötigt, ein entsprechendes Versprechen zu unterschreiben. Ungeachtet dessen ließ der englische Premier dennoch über seinen Außenminister den Sowjets das Baltikum anbieten und handelte später höchstpersönlich in Moskau ein Teilungsabkommen aus, nach dem in Osteuropa, gerechnet nach Prozentzahlen pro Land, englische und sowjetische Einflußzonen entstehen sollten. Stalin zeigte sich interessiert und akzeptierte zunächst. Bei einer günstigen Gelegenheit würde dann neu verhandelt werden müssen. Ein Muster dafür gab Stalins Kündigung des mit Deutschland geschlossenen Abkommens über gegenseitige Einflußzonen nach kaum einem Jahr und dem Scheitern der deutschen Luftoffensive gegen England. Dänemark, Jugoslawien, Griechenland, die Türkei und der Iran hatten unter anderem auf der Liste dessen gestanden, was Außenminister Molotow in seinem Auftrag den deutschen Gesprächspartnern nun noch zusätzlich abhandeln sollte. Dieser erste Berliner Gipfel des Krieges im November 1940 eröffnete den deutsch-sowjetischen Konflikt endgültig.

Die Konferenz mündete in den Kalten Krieg

Der zweite Berliner Kriegsgipfel, den die Alliierten 1945 unter sich veranstalteten, sollte am Ende in den Kalten Krieg münden. Dies lag keineswegs an Einzelfragen oder dem unruhigen Verhandlungsverlauf, der unterbrochen werden mußte, als Churchill durch die britischen Wahlen aus dem Amt katapultiert wurde. Englands Einfluß auf die beiden Weltmächte spielte schon während seiner Anwesenheit kaum noch eine Rolle. Sein farbloser Nachfolger, der Labour-Politiker Clement Attlee, vermochte keine wesentlichen Akzente mehr zu setzen. Kriegspremier Churchill hatte einen Positionswechsel vollzogen und sprach seit neuestem gern von einer sowjetischen Bedrohung Europas, was in der amerikanischen Delegation die spöttische Bemerkung aufkommen ließ, er rede wie Goebbels. Ein Jahr später griff er mit der Redewendung vom "Eisernen Vorhang" dann tatsächlich eine Goebbelssche Wortprägung auf und machte sie weltbekannt. Mit seiner Fultoner Rede im Frühjahr 1946 gelang ihm der Coup, sich aus der Opposition heraus als Warner vor einer Gefahr zu präsentieren, die er als Regierungschef durch seine Kriegspolitik selbst nach Kräften gefördert hatte.

Die beiden maßgebenden Mächte gingen zuvor in Potsdam über die englischen Vorstellungen hinweg und hielten bereits kurz nach der Eroberung Deutschlands an ihren weitergehenden Zielen fest. Schon während der Erstürmung von Berlin im Frühjahr hatte Stalin seiner Umgebung den nächsten Krieg angekündigt: "In fünfzehn oder zwanzig Jahren haben wir uns erholt und dann werden wir es noch einmal probieren." Mit dieser Einstellung traf er in Potsdam auf einen amerikanischen Präsidenten, der von russischen Kommunisten so wenig hielt wie von deutschen Nationalsozialisten.

Roosevelt war Anfang des Jahres verstorben und von Harry S. Truman abgelöst worden. Der neue Präsident hatte bereits in Kriegszeiten lebhaft befürwortet, Hitler und Stalin wechselseitig zum Kampf bis zum letzten Mann zu ermutigen, "damit so viele wie möglich umkommen", aber keinen von beiden gewinnen zu lassen. Stalin könne man nicht trauen. Nun stand Truman in Potsdam vor dem Problem, daß sein Vorgänger Roosevelt vor einigen Monaten in Jalta bei seinen Bemühungen erfolgreich gewesen war, den blutigen Anteil an der Auseinandersetzung auch in Asien auf die UdSSR abzuwälzen und sie zu diesem Zweck zum Überfall auf Japan zu ermutigen. Inzwischen explodierte jedoch am Tag vor Konferenzbeginn in Potsdam die erste Atombombe und veränderte die Geschäftsgrundlage. Russische Waffenhilfe im Fernen Osten war nun unnötig und unerwünscht. Um den Einzug der Roten Armee in Japan zu verhindern, entschloß sich Truman während des Potsdamer Gipfels, die neuen Atomwaffen als Machtdemonstration gegenüber der Sowjetunion einzusetzen. Hiroshima und Nagasaki wurden eingeäschert, Japan kapitulierte schnell. Dennoch gelang es Stalin, wenigstens den durch Roosevelt versprochenen Anteil japanischen Territoriums einzutreiben.

In dem Schatten solcher Ereignisse blieb die Potsdamer Konferenz von den geopolitischen Interessen der Weltmächte geprägt. Wo es um strategische Ziele ging, ereichten die Westmächte ihre Ziele weitgehend. Die UdSSR blieb in Ostsee und Schwarzem Meer eingeschlossen, ein Zugang zum Persischen Golf konnte nicht erzwungen werden, auch wenn in den Folgejahren in Griechenland und dem Iran noch harte Auseinandersetzungen folgten. Stalin verfehlte seine im November 1940 formulierten Ziele. Die Welt blieb insgesamt, was sie vor 1939 auch gewesen war - angelsächsisch geprägt. Allerdings hatte sich der Schwerpunkt nach Nordamerika verlagert, wo denn folgerichtig die zum Erhalt des Status quo neugegründeten Weltorganisationen wie die Vereinten Nationen und der Internationale Währungsfonds angesiedelt wurden. Deren Installierung galt der US-Politik 1945 für wichtiger als das Schicksal europäischer Nationen, solange die wesentlichen Rohstoff- und Industriezentren des Planeten unter direkter oder indirekter Kontrolle blieben. Zu den amerikanischen Zielen der Potsdamer Verhandlungen gehörte es daher, das Ruhrgebiet vor sowjetischen und französischen Reparationsbegehrlichkeiten zu schützen und für den Welthandel zu öffnen.

Unbefriedigend blieb aus amerikanischer Sicht die Situation in Ostmitteleuropa. Roosevelts Länderliste von 1939 hatte stets den Hintergrund amerikanischer Politik gebildet. Man führe diesen Krieg, um zu verhindern, daß ein Land oder eine Gruppe von Ländern die Hegemonie über Europa erreichen könnte, die UdSSR eingeschlossen; mit diesen Vorgaben hatte er Averell Harriman 1943 als neuen Botschafter nach Moskau geschickt. Im Grundsatz bestritten die Vereinigten Staaten auch die sowjetische Hegemonie hinter dem Eisernen Vorhang, besonders die Okkupation der baltischen Länder, konnten sich 1945 jedoch nicht durchsetzen. Die vereinbarten Formulierungen über die Zulassung "demokratischer Parteien" und "demokratischer Wahlen" in Ländern wie Polen seien zu blumig, kritisierte Harriman. Man wisse doch, was das aus sowjetischer Sicht heiße.

Keinen Rang völkerrechtlich relevanter Verträge

Mit den ethnischen Säuberungen in Mitteleuropa, wie sie von den polnischen und tschechischen Regierungen seit Vorkriegszeiten angedacht und in westlichen Regierungskreisen frühzeitig während des Krieges akzeptiert worden waren, wollten die Westmächte offiziell möglichst wenig zu tun haben. Derartiges rechtlich verbindlich zu genehmigen, stand ohnehin nicht in der Kompetenz eines amerikanischen Präsidenten, selbst wenn die begleitenden Verbrechen an den Vertreibungsopfern nicht stattgefunden hätten. So fanden weder die Katastrophe der Ostdeutschen noch andere Vertreibungen in Potsdam über erklärtes politisches Wohlwollen hinaus eine juristische Billigung. Das zum bekannten Begriff gewordene und im deutschen Schulbuch in den Folgejahrzehnten getreulich kolportierte "Potsdamer Abkommen" hat es nicht gegeben.

Die Alliierten gingen auseinander, ohne die verschiedenen Sitzungspapiere in den Rang von völkerrechtlich relevanten Verträgen zu erheben, ihre Diskussionen blieben juristisch wie sachlich Stückwerk. Erst der offene Streit der Weltmächte, das starre Machtgleichgewicht im Europa der folgenden Jahrzehnte und die Einfalt bundesrepublikanischer Ostpolitik gaben der lückenhaften Willkür von Potsdam dann einen Anschein von Rechtlichkeit, der sogar den Zusammenbruch des Sowjetsystems 1989 in wesentlichen Teilen überstand. Graf Brockdorff-Rantzau zog sich angewidert Handschuhe über, bevor er 1919 den Empfang des Versailler Vertrags quittierte und ließ sie später liegen. Vor den Widerwärtigkeiten der Potsdamer Vorgänge hätten keine Handschuhe schützen können.

Foto: Truman, Churchill, Stalin und ihre Berater am Konferenztisch im Schloß Cecilienhof: Auf Dauer eine rechtliche Grauzone geschaffen

Foto: Stalin und Truman in Potsdam: Ruhrgebiet vor Sowjets schützen

 

Dr. Stefan Scheil ist Historiker und Autor des Buches "Fünf plus Zwei - Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs"


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