© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

Auf seiten der "Sonne der Völker"
Eine Veranstaltung in Potsdam beleuchtete die Anbiederung westlicher Intellektueller an das stalinistische Unrechtsregime
Ekkehard Schultz

Vor Stalin neigte sich herab zum Kuß, auf seine Stirne Lenins Genius" - die Anzahl solcher und ähnlicher Gedichte, Ergebenheitsadressen und Romane aus der Feder linker westlicher Intellektueller, mit denen die Herrschaft des sowjetischen Diktators und Massenmörders verherrlicht wird, erscheint unendlich groß. Selbst Jahre nach seinem Tod wurde die vermeintliche "Sonne der Völker", einer Götterfigur gleich, immer noch geradezu kultisch verehrt.

Doch ist dieses Phänomen aus heutiger Sicht in erster Linie als opportunistische Anbiederung zu werten oder verbarg sich dahinter echter Glauben? Worauf war die Blindheit und Einseitigkeit zurückzuführen, die dazu beitrug, alle bereits früh erkennbaren Indizien für schwerwiegendste Verbrechen nicht wahrzunehmen, ja sie sogar zu verteidigen? Diese und andere Fragen versuchte der Journalist und Autor Gerd Koenen ("Das rote Jahrzehnt") in seinem Referat "'Die Sonne der Völker' - Stalins westliche Bewunderer und ihre Motive" zu beantworten. Die Veranstaltung am 7. Juli im Alten Rathaus Potsdam bildete den Abschluß der Vortragsreihe "Stalinismus - Fragen an ein europäisches Thema", die gemeinsam vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, dem Deutschen Historischen Museum und der Humboldt-Universität Berlin organisiert worden war.

Koenen ging im ersten Teil seines Vortrages auf den historischen Hintergrund der Stalin-Ära ein und zitierte ausführlich einige pathetisch-schwülstige Lobeshymnen wie von Johannes R. Becher - dem ersten deutschen Verfasser von Stalin-Gedichten - , Bertolt Brecht, Kurt Bartels und Jean-Paul Sartre, die allesamt Stalin als unerreichbaren Glanzpunkt der Menschheitsgeschichte feierten. Anschließend verwies er auf die Tatsache, daß sich mehrere dieser Köpfe selbst nach der Distanzierungsrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU sehr schwer damit taten, ihre zu Papier gebrachten Ansichten grundsätzlich zu revidieren. Einen Ausweg bot ihnen dabei der in Kreisen der westlichen Linken populäre Versuch, Stalin auf die Rolle des entscheidenden Antipoden Hitlers zu verklären und zu beschränken.

Hinweise auf "Schattenseiten" als Propaganda gewertet

Daß jedoch zunächst überhaupt der Versuch gemacht wurde, Stalin auch nach der offiziellen Distanzierung der sowjetischen Staats- und Parteiführung vom "Stalinismus" zu verteidigen, wertete Koenen als Indiz dafür, daß die Gründe für den Kult bei den westlichen Bewunderern des Diktator keineswegs in erster Linie auf bloßen Opportunismus zurückzuführen sind. Die große Attraktivität des kommunistischen Experimentes selbst in Kreisen der gemäßigten Linken, hatte eine wesentliche Ursache in dem nach dem Ersten Weltkrieg verbreiteten Glauben, die bürgerliche Gesellschaft sei am Ende und könne die dringenden Probleme der Zeit nicht bewältigen - wodurch ein gesellschaftlicher Umbruch dringend notwendig sei. Daß gerade in Rußland - welches immer als "rückständiges Land" von der Intelligenz kritisiert wurde - dieser Schritt als erstes vollzogen wurde, verschaffte dem neuen Regime in diesen Kreisen von Beginn an einen erheblichen Bonus. Die Auffassung, es könne "nur besser werden" - gemischt mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Aufbruchsstimmung, die das "Land des Fortschritts" in seiner Propaganda erzeugen ließ -, verstärkten diese Positionierung. Frühe Warnungen und Hinweise auf die "Schattenseiten" des neuen Regimes und Berichte über die Verfolgung und Ermordung von Priestern, von Angehörigen nationaler Minderheiten und von Kulaken wurden als antikommunistische Propaganda bewertet, als Lüge zurückgewiesen oder - soweit sie nicht bestritten werden konnten - als traurige, aber notwendige Maßnahmen auf dem Weg zu einer wirklich "neuen, gerechten Welt" verteidigt. Für eine außergewöhnlich gute Sache müsse man im Regelfall vieles opfern - im Zweifelsfall selbst nächste Angehörige und Freunde -, sei nicht nur eine Floskel von Stalins Anhängern im Westen gewesen, so Koenen.

Zur Bewertung des Stalin-Kultes müsse dieser zudem vor dem Hintergrund der Verklärung Lenins betrachtet werden. Ohne den Lenin-Kult sei dieser zwar denkbar gewesen; jedoch nicht in diesem Ausmaß. Generell wurde die große Bedeutung eines "Führers" für die Popularisierung "der Idee" gegenüber den Massen schon sehr früh in den Kreisen der sozialistischen Arbeiterbewegung erkannt. Sie sei keinesfalls nur auf der Rechten zu finden gewesen, so Koenen. Dies belege schon der Versuch, Stalin nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone als nunmehr "richtigen Führer" gegenüber der Bevölkerung darzustellen.


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