© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/05 29. Juli / 05. August 2005

"Ein anderes Grundgesetz"
Wolf-Rüdiger Schenke, Klagevertreter des Grünen-Abgeordneten Schulz, über die Verfassungsklage gegen die Bundestagsauflösung
Moritz Schwarz

Herr Professor Schenke, im Auftrag des grünen Bundestagsabgeordneten Werner Schulz werden Sie Klage gegen die Auflösung des Bundestages einreichen. Sie sprechen von „guten Erfolgaussichten“. Worauf gründet sich Ihr Optimismus?

Schenke: Als der Bundeskanzler am 22. Mai Neuwahlen angekündigt hat, sprach er lediglich davon, eine neue Legitimation für seine Reformpolitik gewinnen zu wollen. Es ging ihm also zunächst um einen Appell an den demokratischen Souverän. Eine solche Zielsetzung rechtfertigt aber auch nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von 1983 nicht die Stellung einer unechten Vertrauensfrage, das heißt einer Vertrauensfrage mit dem Ziel, durch eine vom Kanzler angestrebte Verneinung des Vertrauens die Bundestagsauflösung und Neuwahlen herbeizuführen. Später, bei der Stellung der Vertrauensfrage, berief sich der Kanzler zwar auch auf den Verlust der Mehrheit, machte diesen aber nicht glaubhaft.

Sie haben bereits 1983 zwei FDP-Abgeordnete vertreten, die gegen die damalige Auflösung des Bundestages auf Initiative von Bundeskanzler Kohl geklagt haben, allerdings ohne Erfolg. Warum sind Sie heute zuversichtlicher?

Schenke: 1983 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil bestimmte Grundsätze für die Stellung einer unechten Vertrauensfrage mit dem Ziel einer Auflösung des Bundestages aufgestellt. Wenn man diese Grundsätze auf die heutige politische Situation überträgt, dann zeigt sich, daß die Voraussetzungen für Neuwahlen nicht gegeben sind. Denn der Kanzler muß nun plausibel machen, daß er Grund zu der Annahme hat, kein Vertrauen mehr zu genießen. Dies einfach nur zu behaupten, ist seit dem Urteil von 1983 zu wenig.

„Die Argumentation Schröders – alles andere als überzeugend!“

Bundespräsident Köhler ist offenbar der Ansicht, daß ihm dies überzeugend gelungen ist.

Schenke: Der Kanzler hat darauf verwiesen, daß seine Politik in den eigene Reihen bei einigen Abgeordneten auf massiven Widerstand gestoßen sei und diese drohten, sich einer gesetzlichen Umsetzung zu widersetzen und sogar aus der Partei auszutreten. Solche Drohungen gab es aber schon in der Vergangenheit bei anderen innerhalb der Regierungsfraktion politisch höchst umstrittenen Gesetzen wie der Gesundheitsreform oder Hartz IV. Trotzdem erreichte der Kanzler hier immer die für deren Verabschiedung erforderliche Mehrheit, und auch zu Parteiaustritten von Abgeordneten der Bundestagsfraktionen kam es bis heute nicht. In den 39 Fällen, in welchen bei Abstimmungen im Bundestag die Kanzlermehrheit erforderlich war, erreichte er diese stets.

Sie meinen jedoch, mit seiner „Beweisführung“ habe der Kanzler nicht das bewiesen, was er eigentlich beweisen wollte.

Schenke: Ja, denn er hat schließlich all diese politisch umstrittenen Gesetze doch mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet. Gerade das zeigt, daß es seiner Regierung eben auch bei politisch kontroversen Vorlagen möglich war und ist, eine Mehrheit zu organisieren. Wenn das aber in der Vergangenheit funktioniert hat, warum sollte es in der Zukunft nicht auch funktionieren?

Der Kanzler meint, zwar haben sich die Kritiker in der Vergangenheit einbinden lassen, dennoch biete das Verhalten dieser unsicheren Kantonisten keine Grundlage für die Zukunft.

Schenke: Auch das ist alles andere als überzeugend, denn es liegt doch gerade in der Logik der Vertrauensfrage, daß sie eine disziplinierende Wirkung entfaltet. Machen Abgeordnete dem Regierungschef über Gebühr Schwierigkeiten, stellt er die Vertrauensfrage, um sie mit der Androhung von Neuwahlen zu zwingen, sich zu ihm zu bekennen und sich über ihre grundsätzliche Haltung klarzuwerden. Die Ankündigung der Vertrauensfrage am Abend des 22. Mai hat dann auch genau diesen Effekt hervorgerufen: Allseits wurde für Schröder Zustimmung signalisiert. Nun plötzlich zu argumentieren, diese Zustimmung sei unehrlich, widerspricht einfach der der Vertrauensfrage zugrunde liegenden Logik!

Dennoch, Bundespräsident Köhler scheint er überzeugt zu haben.

Schenke: Der Bundespräsident hat lediglich argumentiert, er glaube, der Bundeskanzler habe in vertretbarer Weise dargelegt, das Vertrauen der Parlamentsmehrheit verloren zu haben. Aber das ist mehr als fragwürdig. So ist zum Beispiel auffällig, daß nur einen Tag vor der Vertrauensabstimmung am 1. Juli noch vierzig Gesetzes- und sonstige Anträge der Regierung angenommen worden sind und ein Gesetzesantrag kurzfristig von der Tagesordnung gestrichen wurde, weil für ihn eine vorhandene Kanzlermehrheit erforderlich gewesen wäre. Schließlich wäre es merkwürdig gewesen, wenn am einen Tag noch ein Gesetz mit Kanzlermehrheit angenommen worden wäre, am nächsten Tag aber die Fraktionen dem Kanzler nicht das Vertrauen ausgesprochen hätten.

Bundespräsident Köhler muß damit rechnen, daß das Bundesverfassungsgericht seinen Auflösungsbeschluß kassiert, wenn er nicht wasserdicht ist. Ist anzunehmen, daß er sich leichtfertig einer solchen Gefahr aussetzt?

Schenke: Der Bundespräsident hat meinen hohen Respekt, ich gehe durchaus davon aus, daß er die Sache sehr ernst genommen hat. Dennoch – machen wir uns nichts vor – stand er natürlich unter einem erheblichen politischen Druck. Wenn Spitzenpolitiker einerseits bemerken, sie achten die Entscheidungsfreiheit des Bundespräsidenten, andererseits aber betonen, es sei eine politische Katastrophe, wenn die Neuwahlen nicht stattfinden, dann kommt mir das sehr merkwürdig vor.

Das heißt, um zu verhindern, in die „politische Katastrophe“ zu schlittern, steuert der Bundespräsident lieber sehenden Auges in die juristische Katastrophe?

Schenke: Nicht er, sondern der Bundeskanzler, der das ganze Verfahren in Gang gesetzt hat, ist dafür verantwortlich.

Politisch vielleicht, aber der Bundespräsident ist volljährig und hat seine Unterschrift unter die Auflösungserklärung gesetzt.

Schenke: Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat es im Volk keineswegs eine laute Forderung nach Neuwahlen gegeben, diesen Wunsch hat der Bundeskanzler vielmehr durch seine Ankündigung erst richtig geweckt! Schröder hat bereits hierdurch eine Dynamik in Gang gesetzt, indem alsbald alle Parteien den Wahlkampf eröffneten und die Bevölkerung auf Neuwahlen „programmiert“ wurde. Dem entfachten Sog konnte sich schließlich auch der Bundespräsident – obwohl er es sich nicht leichtmachte – entziehen.

„Der Bundespräsident hat mich enttäuscht“

Wenn das Bundesverfassungsgericht den Auflösungsbeschluß kassiert, muß der Bundespräsident dann zurücktreten?

Schenke: Rechtlich gesehen muß niemand zurücktreten. Politisch gesehen, wenn überhaupt, dann der für das ganze Dilemma Verantwortliche, also der Kanzler.

Bundespräsident Köhler hatte sich drei Wochen lang auf die Rede zur Verkündung seines Entschlusses, den Bundestag aufzulösen, vorbereitet. Auch wenn Sie sie nicht teilen, wie bewerten Sie seine Argumentation?

Schenke: Der Bundespräsident hat sich sehr stark auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bezogen. Aber die Art und Weise, wie er diese auf den Sachverhalt von heute angewandt hat, hat mich enttäuscht. Im Grunde hat er lediglich die Argumentation des Bundeskanzlers übernommen, ohne wirkliche Anhaltspunkte für deren Erhärtung zu nennen.

Also ist der Bundespräsident unter Niveau geblieben?

Schenke: Seine Entscheidung überzeugt jedenfalls insoweit nicht, als er behauptet, seine Entscheidung stünde voll und ganz auf dem Boden der Entscheidung von 1983, er deren Vorgaben aber inhaltlich nicht ausreichend berücksichtigt hat.

Des Rätsels Lösung liegt wohl in der Tat darin, daß natürlich alle Beteiligten wissen, daß es sich de facto um eine eigentlich unzulässige „unechte“ Vertrauensfrage gehandelt hat. Was bedeutet das für die Verfassung: Bruch, Aushöhlung, Mißbrauch?

Schenke: Das bedeutet, daß ein Weg zu Neuwahlen eingeschlagen wurde, den die Verfassung nicht vorsieht.

Was bedeutet das konkret? Nimmt die Verfassung dabei nicht politischen Schaden?

Schenke: Artikel 68 des Grundgesetzes, der die Vertrauensfrage und die Auflösung des Bundestages regelt, steht im Zentrum fundamentaler verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien, die bei Tolerierung einer solchen politischen Praxis grundsätzlich verändert werden würden.

Also im Klartext: Ein Vergehen von der Schwere eher eines Bankraubs oder nur Falschparkens?

Schenke: Solche von Ihnen ja nicht ernstlich angestellten Vergleiche sind natürlich völlig deplaziert. – Man muß sich im klaren darüber sein, daß die Entscheidung der Verfassungsväter für das repräsentativ-parlamentarische Prinzip eine bewußte war! Wenn sich dagegen das, was der Bundeskanzler da eingefädelt hat, durchsetzt, geht die Entwicklung stark in Richtung einer plebiszitären Demokratie. Außerdem geht es um das parlamentarische Regierungsprinzip, also um das Verhältnis von Parlament und Regierung. Und es geht um die Stellung des Bundespräsidenten sowie des Bundesstaatsprinzips. All diese Dinge wären tangiert.

Wie kann man sich die Auswirkungen konkret vorstellen?

Schenke: In schwierigen Situationen zum Beispiel, die das Parlament bislang versuchen mußte, selbst zu lösen, könnte es sich künftig aus der Verantwortung ziehen und lieber an das Volk appellieren. Wodurch wir in einen Zustand permanenter Abstimmungen zu politischen Fragen geraten könnten.

Eine andere Republik?

Schenke: Ein anderes Grundgesetz zumindest. Und das würde bedeuten, eine andere Art von Demokratie.

Gerhard Schröder also eine Art Polit-Rabauke? Ein Elefant im Porzellanladen?

Schenke: Das ist nicht mein Vokabular. Ich bemühe mich um Sachlichkeit. Es ist für Gerhard Schröder charakteristisch, unmittelbare demokratische Legitimation zu bevorzugen. Das ist aber nicht der Weg des Grundgesetzes mit seinem repräsentativen Prinzip.

Schröder hat das Grundgesetz also gar nicht verstanden?

Schenke: Er hat vermutlich wenig Verständnis dafür, daß das Grundgesetz der von ihm bevorzugten Art von Demokratie fremd gegenübersteht.

Steht sein Demokratie-Verständnis eher in der Tradition seiner Achtundsechziger-Juso-Zeit als in der parlamentarischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland?

Schenke: Man könnte sagen, daß für die Regierung Gerhard Schröders der Begriff der „Kanzlerdemokratie“, der ja für die Regierung Adenauers geprägt wurde, charakteristisch ist. Schröder ist ein relativ autoritärer Kanzler. Anders als zum Beispiel Helmut Schmidt ist es ihm gelungen, seine Partei für seine Politik zu disziplinieren. Um so merkwürdiger ist es, wenn er nun behautet, mangels Unterstützung nicht mehr weiterregieren zu können.

Alle etablierten Parteien unterstützen den Bundeskanzler. Ist das Grundgesetz bei den Etablierten also noch in guten Händen?

Schenke: Unterm Strich ja, denn im ganzen stehen die etablierten Parteien doch eindeutig hinter dem Grundgesetz.

Das hört sich allerdings bei Ihrem Mandanten Schulz anders an, der spricht von „Farce“, „billigem Schmierentheater“ und einem „verfassungswidrigen“ Vorgang.

Schenke: Worte wie „billiges Schmierentheater“ würde ich nie gebrauchen, und ich gehe davon aus, daß sie auch Herr Schulz nicht gebraucht hat. Richtig ist allerdings, daß die Stellung der Vertrauensfrage und die Auflösung einen verfassungswidrigen Vorgang beinhaltet.

„Mißachtung und Ausgrenzung der beiden Abweichler“

Aus Ihrer Sicht müßte es doch ein sehr beunruhigendes Signal sein, daß lediglich zwei Abgeordnete des Bundestages auf die Barrikaden gegangen sind. Ein Indiz dafür, daß das Parlament nur noch mit Parteisoldaten statt mit unabhängigen Volksvertretern bestückt ist?

Schenke: Ich weiß, daß es eine ganze Reihe von Abgeordneten gibt, die mit Sympathie hinter dem Vorstoß von Schulz und der SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann stehen.

Die sich aber nicht zu Wort gemeldet haben.

Schenke: Sie dürfen nicht vergessen, unter welchen Druck Abweichler in solchen Situationen geraten. Das Maß an Mißachtung und Ausgrenzung, das etwa Herr Schulz nun erdulden muß, ist beträchtlich.

Diese Erklärung beruhigt keineswegs – im Gegenteil! Das heißt, der Bundestag als Hort von politischem Druck und Feigheit statt von Verantwortung vor dem Volk und Gewissensfreiheit?

Schenke: Solche pauschalen Urteile werden der Sache nicht gerecht und verbieten sich von selbst.

Andererseits haben Kritiker Schulz, Hoffmann und Sie im Verdacht, nichts anderes als Querulanten zu sein.

Schenke: Es geht hier weder um verfassungstechnische Einzelheiten detailverliebter Prinzipienreiter noch um Wichtigtuer oder Berufs-Querköpfe, die sich auf Kosten des Allgemeinwohls profilieren wollen. Persönlich und politisch stehe ich einer Neuwahl des Bundestages durchaus mit Sympathie gegenüber, nur läßt sie sich auf diese Weise nicht herbeiführen und hätte – bei verfassungsrechtlicher Tolerierung dieses Weges, zu Neuwahlen zu kommen – eine verheerende Signalwirkung für die Zukunft. Herrn Schulz habe ich bei einem Treffen unlängst als den aufrechten Demokraten und verantwortungsbewußten Bürgerrechtler kennengelernt, der er offensichtlich schon zur Zeit der DDR war. Und was mich betrifft, so ist man als Verfassungsrechtler gehalten, sich darum zu sorgen, daß die Verfassung in ihrem Kern beachtet wird. Da heißt es: „Wehret den Anfängen!“ Die Bewahrung der Verfassung läßt nicht zu, daß man über sie mit dem rein politischen Argument, „die Allgemeinheit will das aber so“, hinweggeht. Da standhaft zu bleiben, gehört zum Ethos des Staatsrechtlers.

 

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke ist der Klagevertreter des grünen Bundestagsabgeordneten Werner Schulz, der den Beschluß zur Auflösung des Deutschen Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten will. Bereits 1983 formulierte Schenke eine Klage gegen die Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Carstens. Der Staatsrechtler ist Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Strafprozeßrecht und Polizeirecht an der Universität Mannheim. Geboren wurde er 1941 in Breslau.

 

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