© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

"Die Union steht in der Pflicht"
Hardy Mett, Vorsitzender der Litauendeutschen, über die Hoffnungen nach der Wahl im Herbst und das Schicksal seiner Landsleute
Moritz Schwarz

Herr Mett, in diesen Monaten jährt sich die Katastrophe von Flucht und Vertreibung der Deutschen zum sechzigsten Mal. Im medialen Mittelpunkt stehen allerdings die Vertreibungen aus den ehemaligen Ostprovinzen des Reiches und aus dem angrenzenden Sudetenland. Der Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten in den Ländern Osteuropas wird dabei nur am Rande gedacht. Fühlen Sie sich als Vertriebene zweiter Klasse?

Mett: Natürlich haben wir Deutschen aus Osteuropa das Problem, im Schatten der Vertriebenen aus den Ostprovinzen zu stehen. Aber der springende Punkt ist der Umgang mit den Vertriebenen allgemein: Nicht, daß wir "Vertriebene zweiter Klasse", sondern daß die Vertriebenen Opfer zweiter Klasse sind, ist das Problem! Ich erlebe das nicht nur in Politik und Medien, sondern ganz unmittelbar, zum Beispiel wenn ich mit Schülern und jungen Leuten spreche. Die sind zumeist - nicht nur, was das Schicksal der Vertriebenen aus Ungarn oder dem Baltikum, sondern ebenso was das Schicksal der Ostpreußen oder Sudetendeutschen angeht - völlig ahnungslos. Demzufolge können sie auch kein Interesse, Verständnis oder gar Mitgefühl entwickeln.

Im Herbst wird möglicherweise die Union die Regierung übernehmen. Was erwarten die Vertriebenen von dem Wechsel?

Mett: Natürlich daß eine CDU-Regierung die Kulturförderung der Vertriebenen wieder aufnimmt. Daß sie den Versuch beendet, die Institutionen der Vertriebenen finanziell auszutrocknen, wie das Rot-Grün 1998 mit einer schlagartigen, fast hundertprozentigen Mittelkürzung versucht hat. Ebenso wie auch die Politik, Museen, Forschungs- und Kultureinrichtungen der Vertriebenen diesen zu entwinden und in staatliche Obhut zu zwingen, um damit politische Kontrolle ausüben zu können. Und natürlich erwarten wir einen erheblichen Schub für unser Projekt Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin.

Das sind alles "weiche" Inhalte aus dem Bereich Kultur und Erinnerung, deren Verwirklichung die Union keine große Mühe kostet. Was aber ist mit den "harten" Inhalten?

Mett: Es ist wohl nicht zu erwarten, daß sich die Union für eine der politisch heiklen Forderungen engagieren wird, wie etwa Entschädigungen - Stichwort Preußische Treuhand -, die Herausgabe deutscher Kulturgüter wie zum Beispiel der Universität Breslau oder die Minderheitenrechte der heimatverbliebenen deutschen Volksgruppen in den Vertreibungsgebieten. Denn das würde im Gegensatz zur Kulturförderung eine politische Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, vor allem aber mit dem Zeitgeist in Gestalt der Medien und nicht zuletzt mit den Regierungen etwa in Warschau oder Prag bedeuten. Die Union wird wohl auch in der Regierung tun, was sie jetzt schon tut, nämlich versuchen, diese Themen totzuschweigen und auszusitzen und auf das "hoffentlich" baldige Sterben der Erlebnisgeneration zu spekulieren.

Im Klartext, auch die Union steht im Grunde für die "biologische Lösung"?

Mett: So deutlich wagt man es kaum zu sagen, aber dem ist schwer zu widersprechen.

Angela Merkel hat vergangene Woche erstmals auf dem Tag der Heimat gesprochen.

Mett: Das Problem ist, daß die etablierten Politiker nur kommen, wenn die heiklen Themen ausgespart werden. Es geht bei diesen Auftritten sowohl für die Politiker wie für den Bund der Vertriebenen (BdV) naturgemäß um Selbstpräsentation. Ein inhaltliches Vorankommen ist ausgeschlossen, weil eine "Pflicht" zur Harmonie in den Augen von Medien und Öffentlichkeit besteht.

Zum ersten Mal war der Tag der Heimat - der sonst traditionell in der ersten Septemberwoche stattfindet - auf den halboffiziellen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung am 5. August verlegt worden.

Mett: Was aber offiziell nicht mit dem Gedenken an sechzig Jahre Vertreibung, sondern mit der Erinnerung an 55 Jahre Proklamation der Charta der Heimatvertriebenen am 5. August 1950 in Stuttgart zusammenhängt. Im kommenden Jahr soll der Tag der Heimat wieder im September stattfinden.

Die Erhebung des 5. August zum offiziellen Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung durch den Deutschen Bundestag ist einer von sieben Wahlprüfsteinen des BdV. Sehen Sie die CDU nach einem eventuellen Wahlsieg diesbezüglich in der Pflicht?

Mett: Die Union hat nie offiziell versprochen, den 5. August zum Gedenktag zu machen, aber sie hat deutlich gemacht, daß sie dieses Anliegen nachdrücklich unterstützt. Insofern sehen wir die Union moralisch in der Tat in der Pflicht. Allerdings ist dann immer noch die Frage, was Medien und Öffentlichkeit in den kommenden Jahren daraus machen, ob sie den Tag ebenso aufgreifen werden wie etwa den 8. Mai oder den Volkstrauertag.

Sie sind skeptisch?

Mett: Denken Sie an das Zentrum gegen Vertreibungen, das das Potential hat, die weitgehend verlorene aktive Erinnerung an die Vertreibung in die "Mitte unserer Gesellschaft" zurückzuholen, das aber von den Medien ausschließlich überkritisch und mit spitzen Fingern thematisiert und somit nicht nur in seiner Realisierung entscheidend verändert und verzögert wird, sondern auch außerhalb des Bewußtseins unserer Gesellschaft bleibt. Und durch dessen frühzeitige Stigmatisierung seine "geschichtsheilende" und "nationalversöhnende" Kraft regelrecht kaputtgemacht worden ist.

Welchen Einfluß haben die weniger dominanten Landsmannschaften der Deutschen aus Osteuropa auf das Zentrum?

Mett: Zumindest die Landsmannschaft der Deutschen aus Litauen - und ich glaube, ich kann da auch für die Deutsch-Baltische Landsmannschaft sprechen - sieht unsere Interessen insbesondere durch Frau Steinbach und Professor Glotz bestens vertreten und unterstützt sie in jeder.

Warum sind die deutschen Vertriebenen aus den drei baltischen Staaten in zwei verschiedenen Landsmannschaften organisiert?

Mett: Das hat historische Gründe, allerdings denken wir inzwischen über eine Vereinigung nach.

Warum erst jetzt, nach fast sechzig Jahren?

Mett: Das Aussterben der Erlebnisgeneration und die üblichen Nachwuchsschwierigkeiten der Vertriebenenverbände zwingen uns heute zu diesem Schritt. Die Ursache für die Trennung, die Außenstehenden wohl zunächst unverständlich sein mag, liegt in der unterschiedlichen Geschichte und Tradition der Deutschen aus Estland und Lettland einerseits und der Deutschen aus Litauen andererseits.

Warum verstehen sich die Deutschen aus dem baltischen Litauen nicht als "Baltendeutsche"?

Mett: Erstens hat Litauen eine andere Geschichte als Livland und Kurland, aus denen nach dem Ersten Weltkrieg Estland und Lettland hervorgingen. Vor seiner mehr als 120jährigen Okkupation durch Rußland bis 1918 war Litauen über vierhundert Jahre lang mit Polen staatlich wie konfessionell verbunden - beide Länder sind katholisch, und beide bildeten von 1386 bis 1795 einen gemeinsamen Staat - und war damit historisch anders ausgerichtet als das später reformierte und unter dem wechselnden Einfluß verschiedener Mächte wie Deutschland, Rußland oder Schweden stehende Livland/Kurland. Zweitens kamen die Litauendeutschen erst im 18. Jahrhundert ins Land und nicht wie die Baltendeutschen schon im Zuge der Eroberungen des Deutschen Ordens im 13. und 14. Jahrhundert. Immerhin aber waren auch sie mehrheitlich evangelisch, da sie sich vor allem aus weitergewanderten Hugenotten und "Salzburgern" - das waren wegen ihres protestantischen Glaubens aus ihrer Heimat ausgewanderte Österreicher - rekrutierten. Während aber die Baltendeutschen bis zu ihrer Vertreibung nach 1918 bzw. ab 1944 in Lettland und Estland praktisch die gesamte adlige und bürgerliche Führungsschicht der Gesellschaft stellten, sind die Deutschen in Litauen eher mit den Wolgadeutschen zu vergleichen, also eine bäuerliche Bevölkerung, die auf dem Land, vorzugsweise in einem dreißig bis vierzig Kilometer tiefen Streifen an der Grenze zu Ostpreußen, siedelte und das Land bestellte.

Das deutsche Memelland war 1923 bis 1938 von Litauen besetzt und wurde nach 1945 annektiert. Gehören die vertriebenen Memelländer folglich auch zu Ihrer Landsmannschaft?

Mett: Nein, die Memelländer sind historisch gesehen Ostpreußen und gehören deshalb deren Landsmannschaft an. Allerdings setzen sich für die Interessen der heimatverbliebenen Memelländer - also der wenigen heute noch im Memelgebiet lebenden Deutschen - beide Landsmannschaften ein. Die Ostpreußen, weil die Memelländer ihre Landsleute sind; wir, weil sie heute zu Litauen gehören.

Neben Litauendeutschen und Memelländern gibt es aber noch eine dritte Gruppe, um die sich Ihre Landsmannschaft kümmert.

Mett: Das sind die etwa 2.000 Angehörigen der Gruppe der sogenannten "Wolfskinder". Ostpreußen, die als Kinder in den Wirren von Flucht und Vertreibung ihre Eltern verloren und vor den Russen nach Litauen geflüchtet sind, wo sie verwahrlost in den Wäldern lebten, bevor sie von Einheimischen aufgenommen wurden und so dort geblieben sind.

Die Geschichte der Vertreibung aus Litauen beginnt aber nicht erst 1944.

Mett: Nein, im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 wurde vereinbart, die Deutschen aus Litauen ins Reichsgebiet umzusiedeln, da Litauen an die Sowjetunion fallen sollte. Die meisten kamen dadurch ab Anfang 1941 zunächst nach Ostpreußen. Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion nur wenige Monate später kehrte jedoch der Großteil der litauendeutschen Bauernschaft in die Heimat zurück. Von dort flohen sie aber ab Oktober 1944 fast alle vor der Roten Armee zurück nach Ostpreußen. Dadurch glich ihr Schicksal dem der Ostpreußen: mörderische Flucht, Vertreibung, Hunger, Elend, Tod, Vergewaltigungen und andere Greueltaten der Roten Armee.

Wie war die Stimmung unter den Litauendeutschen 1941 bei der Umsiedlung?

Mett: Zwiespältig. Einerseits war man froh, der sowjetischen Besatzung zu entkommen - viele Deutsche wurden verhaftet und verfolgt -, andererseits waren insbesondere die Bauern niedergeschlagen, mußten sie doch ihren teils jahrhundertealten Besitz zurücklassen. Deshalb kehrten ja auch nach dem Einmarsch in die Sowjetunion viele Bauern wieder zurück. Man muß zudem aber wissen, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Deutschen in Osteuropa unter der ausgesprochen nationalistischen Stimmung in fast allen diesen Ländern sehr zu leiden hatten und diskriminiert wurden. In Litauen zum Beispiel durften wir weder Lehrer noch Beamte werden. Mit der Umsiedlung konnte man dem entgehen. Außerdem waren wir, seit es unter Hitler mit Deutschland endlich wieder bergauf ging, selbst von der nationalen Begeisterung erfaßt, und so freuten manche sich darauf, "heim ins Reich" zu kommen. Dieses Heimkehr-Heimatgefühl war damals ebenso stark wie das Verlust-Heimatgefühl später.

Wenn die Litauendeutschen 1941 mit Einverständnis des Reiches umsiedelten bzw. ihre Reste 1944 fast vollständig vor der Roten Armee geflohen sind, dann ist Litauen kein Vertreiberstaat.

Mett: So ist es, und deshalb wohl sind die Beziehungen zwischen den Litauern und uns auch heute so ausgesprochen gut.

Allerdings ist Litauen ein Annexionsstaat.

Mett: Sie denken an das Memelland? Nach dem Versailler Vertrag wurde es unter Verwaltung des Völkerbundes gestellt. Die französischen Truppen, die zur Garantie entsandt worden waren, waren zu schwach, um der putschartige Angliederung 1923 durch den litauischen Staat abzuwehren. Es war ein Versagen des Völkerbundes.

Sprechen Sie die Litauer auf dieses Unrecht an?

Mett: Das haben auch wir mehrfach getan. Allerdings ist es in erster Linie Aufgabe der ostpreußischen Landsmannschaft. Sie hat dies aber ebenso mehrfach gegenüber Litauen klar und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Die Litauer argumentieren allerdings, daß die dortige Urbevölkerung, die Kuren, mit ihnen verwandt gewesen sei, und betrachten das Memelgebiet daher als legitimen Teil Litauens.

Wie viele Deutsche leben heute noch in Litauen?

Mett: Als wir 1941 umgesiedelt wurden, umfaßte unsere Volksgruppe 52.000 Personen. Davon kehrten Ende 1941, Anfang 1942 etwa 8.000 bis 10.000 zurück. Zwar flohen 1944 fast alle wieder, aber damit hatte die Odyssee für viele noch kein Ende. Die Rote Armee transportierte nach Kriegsende Tausende Litauendeutsche wieder zurück. Allerdings bizarrerweise nicht als Deutsche, sondern als "Sowjetbürger", die sie nach ihrer Ansicht aufgrund ihrer Geburt in Litauen, das jetzt zur Sowjetunion gehörte, waren. Und da die Sowjets auch ihre eigenen Kriegsgefangen wegen angeblicher Kollaboration mit dem Feind pauschal bestraften, wurden zahlreiche Litauendeutsche zunächst in Straflager nach Sibirien deportiert. Als Litauen 1993 unabhängig wurde, umfaßte die deutsche Volksgruppe etwa 6.000 bis 7.000 Personen. Heute sind es aber - vor allem wegen der Abwanderung nach Westen - nur noch etwa 3.000 bis 4.000. Aber immerhin ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Litauern heute besser als etwa das zwischen Deutschen und Polen oder Tschechen. Während in Polen und der Tschechei Vertriebenen nicht erlaubt ist, ihren ehemaligen Besitz zurückzukaufen, ist dies in Litauen - vorausgesetzt, Sie nehmen auch die litauische Staatsbürgerschaft an - kein Problem.

 

Hardy Mett ist Vorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Li-tauen. Geboren wurde der Diplomkaufmann 1931 in Kaunas. Metts Familie wurde 1941 nach Ostpreußen umgesiedelt, von wo sie 1945 vor der Roten Armee nach Westdeutschland floh.

Landsmannschaft der Deutschen aus Litauen: Der Verband hatte bei seiner Gründung 1951 weit über 10.000 Mitglieder, heute sind es noch knapp über 1.000. Kontakt: Dresdner Straße 13, 71229 Leonberg, Tel: 0 71 52 / 7 30 82

 

Foto: Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach eingekeilt zwischen CDU-Chefin Angela Merkel und SPD-Innenminister Otto Schily am 6. August auf dem Tag der Heimat in Berlin: "Wir erwarten, daß die CDU die Kulturförderung der Vertriebenen wieder aufnimmt"

 

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