© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Unentschuldbar
Karl Heinzen

Auf den ersten Blick könnte es vielleicht befremden, daß ein offenbar untadeliger, demokratischer Politiker unter Druck gerät, weil er anderthalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung immer noch nicht seinen Frieden mit dem SED-Regime geschlossen hat. Sicherlich, mag man meinen, es stehen heute drängendere Probleme auf der Tagesordnung als ausgerechnet die Vergangenheitsbewältigung. Auch darf es als eine billige Argumentationsstrategie angesehen werden, wenn jemand für Fehlentwicklungen der Gegenwart jene verantwortlich macht, die in grauer Vorzeit regierten. Andererseits speiste sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik, die 1990 nur größer und nicht anders geworden ist, jahrzehntelang daraus, daß die DDR als ein Unrechtsstaat zu betrachten war. Wer so sentimental ist, ein bißchen an dieser Erinnerung festzuhalten, sollte eigentlich nicht mehr Naserümpfen auslösen als all die vielen, die in "Ostalgie" schwelgen und die zu belehren man längst aufgegeben hat.

Und dennoch ist Jörg Schönbohm für seinen Fauxpas nicht zu entschuldigen. Gleich drei Fehler sind ihm anzukreiden. Zum ersten kann man der DDR vieles vorwerfen, allerdings nicht, daß sie den sozialen Zusammenhalt der ihr anvertrauten Menschen zu unterminieren getrachtet hätte. Gerade deshalb brauchten auch so viele so lange, um sich in der Marktgesellschaft zurechtzufinden. Die im Alltag hilfreichen Massenorganisationen verschwanden erst nach der Wende. Arbeitslosenquoten von 20 Prozent und mehr sollen früher eher unbekannt gewesen sein. Der menschenverachtende Individualismus mit seinen verwahrlosenden Konsequenzen ist ein Westimport. RTL und Sat.1, Bild-Zeitung und NPD sind Kreaturen der alten Bundesrepublik.

Zum zweiten geziemt es sich für den Repräsentanten einer Besatzungsherrschaft nicht, allzu abfällig von den Besiegten zu sprechen, selbst wenn er insgeheim Ressentiments empfinden sollte. Hier gebärden sich sogar die oft mangelnder Sensibilität gescholtenen Amerikaner im Irak klüger.

Zum dritten schließlich ist Jörg Schönbohm auch noch der Totalitarismustheorie aufgesessen, die mit Binsenweisheiten auf Volkshochschulniveau meint, "die beiden deutschen Diktaturen" des 20. Jahrhunderts auf eine Stufe stellen zu dürfen. In der Praxis ist hier sehr wohl zu differenzieren, um nicht anzuecken. Man stelle sich vor, Schönbohm hätte die Säuglingsmorde auf die von den Nazis betriebene seelische Barbarisierung zurückgeführt. Einige wären vielleicht gelangweilt gewesen. Aber wer hätte sich darüber aufgeregt?


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen