© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

Dämonologie der Gegenwart
Jüngers Lektüren, siebter Teil: Ernst Jünger bewegte sich in Dostojewskis Romanen wie in einem Haus, in dem er lange gelebt hat
Alexander Michajlovskij

Wilflingen, 17. März 1996: "Gestern abend war Schlachtfest im 'Löwen' - in der Nacht unruhige Träume (...). Mir gegenüber ein Nobile in eleganter Kleidung; er gehörte nicht zum Traum, sondern stand greifbar im Raum. Vielleicht macht mich meine intensive Dostojewski-Lektüre für solche Erscheinungen anfällig". So schließt der fünfte und letzte Band von "Siebzig verweht" und mit ihm das Tagebuchwerk Ernst Jüngers.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) war in der Tat eine Figur, mit der sich Jünger als Leser sein Leben lang intensiv auseinandersetzte und die für ihn immer hochaktuell blieb. Zwar kannte er auch andere russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wie Gogol, Turgenjew, Tschechow, Tolstoj, aber Dostojewski stellte er über alle als den großen Zeitkritiker, Propheten und Seelenforscher.

Die Lektüre von Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne" (1866) - als "Raskolnikow" zitiert - gehört wohl zu Jüngers ersten wichtigen Leseerfahrungen. Erstmals lernte er Dostojewski als Fünfzehn- ("Siebzig verweht V", 5. Februar 1996) oder Sechzehnjähriger ("Siebzig verweht III", 25. Januar 1983) kennen. Er las Dostojewskis "Kriminalroman" in der 1908 erschienenen Übersetzung von Moeller van den Bruck aus der berühmten Ausgabe der "Sämtlichen Werke" (1913 ff.) bei Piper in München, die Moeller van den Bruck unter Mitarbeit von Dmitri Mereschkowski herausgab.

Diese Ausgabe ermöglichte Jünger später den Zugang auch zu anderen Romanen Dostojewskis wie "Der Idiot" (1868), "Die Dämonen" (1871/72), "Die Brüder Karamazow" mit der "Legende vom Großinquisitor" (1879/80). Zu Jüngers Lektüren zählten außerdem Erzählungen, die autobiographischen Aufzeichnungen "Aus einem Totenhause" (1860-62) sowie das "Tagebuch eines Schriftstellers" (1873).

In Deutschland herrschte ein Dostojewski-Mythos

Abgesehen von der frühen Behauptung im "Abenteuerlichen Herz" (1929), daß "alles, was die Russen schreiben, für uns ganz unerträglich" sei - gemeint ist natürlich die Perspektive der "Erniedrigten und Beleidigten", die unter Nietzsches Einfluß verworfen wird -, wurde Dostojewski für Jünger allmählich zu einem vertrauten Autor. Mit der Zeit bewegt er sich in seinen Romanen wie in einem Hause, in dessen Räumen er lange gelebt und geträumt hat.

Es wäre interessant, den geistesgeschichtlichen Zusammenhang eingehend zu untersuchen und festzustellen, inwieweit das wachsende Interesse Jüngers für Dostojewski in den 1920er Jahren vom Zeitgeist geprägt war. Hier kann nur darauf verwiesen werden, daß jene Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland durch einen "Dostojewski-Mythos" gekennzeichnet war, auf dessen Höhepunkt 1921 von der deutschen Ausgabe der Werke über 200.000 Stück verkauft wurden. Viele deutsche Intellektuelle sahen in Dostojewski ein Symbol und einen Propheten der geistigen und politischen Krise, in der damals ja nicht nur das bolschewistische Rußland steckte.

Eine nicht eben geringe Rolle spielten dabei auch die Einleitungen zu einzelnen Dostojewski-Bänden von Moeller van den Bruck, dem Autor des "Preußischen Stils", der für Jünger einer "der Denkanstöße nach dem Ersten Krieg" war ("Siebzig verweht IV", 27. Juni 1990). Man kann vermuten, daß diese Einleitungen von ausschlaggebender Bedeutung für die Dostojewski-Rezeption in Deutschland waren. So schreibt Moeller van den Bruck in seiner Einführung zu "Die Dämonen" (russ. Besy) (Bd. 5-6, 1916), daß Dostojewski zum ersten jener Künstler wurde, "in deren Kunst ein Stück Zukunft transcendental vorweggenommen und Leben und Ewigkeit psychisch verbunden scheint", und der "das moderne Leben in seiner inneren Dämonie ergreifen" konnte. In seinem stofflich "russischsten Buch" habe sich der Dichter mit dem "politischen und sozialen Gebiet" ("das mittlere und vermittelnde, das der russische Ideologe auf seinem Wege zum religiösen und theokratischen trifft") beschäftigt und dabei zahllose Typen meisterhaft gezeichnet: "nihilistische Helden, sozialistische Doktrinäre, Slavophile, Patrioten; Fanatiker, Intriganten, Maniaken, Idioten; dazu Reaktionäre, Bureaukraten, Blaustrümpfe, Dekadente, russisches Publikum". Diese zwei Motive in der Moellerschen Auslegung - Prophetie und Typologisierungskraft - machen Dostojewskis Gestalten zu den "Schlüsselfiguren" in der Jüngerschen Exegese der Moderne.

Im Vorwort zu den "Strahlungen" wird Dostojewski neben Poe, Hölderlin, Tocqueville, Burckhardt, Nietzsche und Bloy ein "prophetischer Geist" genannt, in dessen oft "hieroglyphischen Texten" die Katastrophe der Moderne vorausgeschaut wird. In diesem Sinn sind die vielen über Tagebücher und Essays verstreuten zeitkritischen Bemerkungen Jüngers zu lesen, in denen Dostojewski und seine Gestalten erwähnt werden. So heißt es in den "Kaukasischen Aufzeichnungen" am 31. Dezember 1942: "Das alte Rittertum ist tot; die Kriege werden von Technikern geführt. Der Mensch hat also jenen Stand erreicht, den Dostojewski in 'Raskolnikow' beschrieben hat. Da sieht er seinesgleichen als Ungeziefer an". Wenn Jünger im "Zweiten Pariser Tagebuch" (16. Oktober 1943) über die Krematorien als Höllenwerke schreibt, meint er, daß manche Dinge in der modernen Wirklichkeit sogar die prophetische Kraft Dostojewskis übersteigen: "Das ist die Landschaft, in der Kniébolos Natur sich wohl am klarsten offenbart und die selbst Dostojewski nicht vorausgesehen."

Schlüsselfiguren in Jüngers Exegese der Moderne

In einer aufschlußreichen Bemerkung in "Annäherungen. Drogen und Rausch" (1970), die sich auf die Berliner Zeit bezieht, erfahren wir etwas wichtiges über Jüngers Lesemethode: "Ich versuchte damals, ein Personenregister zu Dostojewskis Texten aufzuzeichnen - nach Art eines Stammbaums oder besser eines Moleküls der organischen Chemie. Das sollte die Lektüre der großen Romane unterstützen (...) In solchen Fällen trifft man sich in einem Opus wie in einer zeitlosen Wirklichkeit. Wir waren manchmal weniger auf dem Berliner Pflaster als auf dem Petersburger Heumarkt oder in der Kaschemme, in der Swidrigajloff seine letzte Nacht zubrachte".

Dieses "Personenregister" wird von nun an für Jüngers Umgang mit Dostojewskis Texten durchaus charakteristisch. So vergleicht er in "Jahre der Okkupation" (28. März 1946) den illegalen Roßbach-Bund und die Fememorde der Weimarer Zeit, von denen uns auch "Die Geächteten" Ernst von Salomons berichten, mit dem von Dostojewski in den "Dämonen" geschilderten "klassischen Personal einer nihilistischen Verschwörungsgruppe" (dasselbe in "Siebzig verweht III", Notiz vom 9. Januar 1984, über die "Organisation Consul" des Kapitän Ehrhardt). Dostojewski muß also schon damals das ganze Bestiarium gekannt haben.

Die große Bedeutung Dostojewskis läßt sich vor allem im Zusammenhang mit dem sich durch das ganze Werk Jüngers ziehenden Problem des Nihilismus und der Macht verstehen. Der russische Schriftsteller war für ihn nicht nur Prophet, sondern auch Metaphysiker, der über das Wesen der Macht nachdachte und darüber genau zu berichten wußte. Dostojewskis besessene Gestalten geben ihm gleichsam das Muster für die Dämonologie der Gegenwart.

Am Anfang von "Gärten und Straßen" (5. April 1939) - Jünger schreibt gerade an seiner Erzählung "Auf den Marmorklippen" - verdeutlicht er für sich die Gestalten von Mauretaniern und des Oberförsters, indem er kurz zu Pjotr Stepanowitsch Werchowenski und Nicolai Stawrogin als zu etwas Selbstverständlichem greift und glaubt, an diesem Beispiel das Verhältnis der "technischen" zur "autochthonen" Macht erläutern zu können. Diese Typologie erhält bei Jünger sogar einen konspektiven und schematischen Charakter, wie es die mehr als 25 Jahre später geschriebene Notiz in "Siebzig verweht I" (19. Juli 1965) bezeugt: "Aladin ist der wahre (naive) Machthaber. Deshalb ist der Mauretanier auf ihn angewiesen. Siehe auch Stawrogin Stawrogin (Aladin) und Stepan Stepanowitsch (Mauretanier)".

Heilmittel gegen die Krankheit des Nihilismus

Im "Ersten Pariser Tagebuch" (6. Januar 1942) folgt die Erwähnung von Pjotr Stepanowitsch als Inbegriff der niederen Macht der dämonologischen Bemerkung (4. Januar 1942) über die Abstufungen des Bösen (Luzifer - Diabolus - Satan). Und in der Aufzeichnung vom 28. April 1942, wo es um das Gespräch über die Möglichkeit des "moralischen Menschen" geht, beziehen sich die Gesprächspartner auf "Nietzsche, Burckhardt und Stawrogin". Stawrogin, Werchowenski und andere erscheinen bei Jünger gleichsam als Schwebegestalten, die sich von ihrem Hintergrund abgelöst haben und jetzt als Bezugspunkte der labyrinthartigen Gedankengänge auftreten.

Anhand seines "Personenregisters" erarbeitet Jünger seine eigene Palette der Typen, die von ihm folgendermaßen angewendet wird: Pjotr Stepanowitsch ist der "niedere Dämon", der todkranke Student Hippolyt aus "Der Idiot" ist der aktive Nihilist, der in ein "schauerliches Absterben" mündet, Smerdjakow aus den "Brüdern Karamazow" entspricht dem Typus eines proletarisierten und ressentimentgeladenen Intellektuellen, Sswidrigailow (im Gegensatz zu Titularrat Marmeladow) gleicht dem "Übermenschen auf russische Art", Nikolai Stawrogin dem "Übermenschen in nuce".

Dostojewski liefert Jünger jedoch nicht nur die Dämonologie der Moderne, sondern auch Heilmittel gegen die Krankheit des Nihilismus. "Über die Linie" (1950) beginnt mit Nietzsches und Dostojewskis Wertung des Nihilismus. Sowohl Nietzsche im "Willen zu Macht" als auch Dostojewski in seinen großen Romanen haben den Nihilismus zum Objekt ihrer Betrachtung gemacht, unterscheiden sich aber in der Perspektive der Beobachtung ("geistig-konstruktive Maße" bei Nietzsche und "moralische und theologische Inhalte" bei Dostojewski). "Als günstiges Zeichen darf gedeutet werden, daß beide Autoren in der Prognose übereinstimmen. Diese ist auch bei Dostojewski optimistisch; er sieht den Nihilismus nicht als letzte, tödliche Phase an. Er hält ihn vielmehr für heilbar, und zwar heilbar durch den Schmerz. Das Schicksal des Raskolnikow gibt im Modell die Vorschau auf die große Wandlung, an der Millionen teilhaben." "Über die Linie" ist Martin Heidegger gewidmet, der sich auch mit der Frage nach der Überwindung des Nihilismus beschäftigte und für den Dostojewski nicht weniger wichtig war (Nietzsche. Der europäische Nihilismus).

Vor- und nachher eine Seite Nietzsche

Noch mehr über Jüngers Methode der parallelen Dostojewski- und Nietzsche-Lektüre erfahren wir aus einem Tagebucheintrag in "Siebzig verweht III" (25. Januar 1983): "Ich kann das (gemeint ist: Marmeladows Beichte in 'Raskolnikow') nur bewältigen, indem ich vor- und nachher eine Seite Nietzsche lese (...) Sie wissen, daß Schubart, der Autor von 'Europa und die Seele des Ostens', ein Triptychon erstellt hat: Dostojewski zur Rechten, Nietzsche zur Linken als die Schächer am Kreuz." Diese doppelte Lesemethode findet auch weiter Anwendung: Am 6. Februar 1983 notiert Jünger, daß er "zwischen zehn Uhr und Mitternacht zwei Abschnitte aus dem 13. Band der Nietzsche-Ausgabe von Colli und Montinari las, zwischen denen noch ein Kapitel aus Raskolnikow geschoben" wurde.

Die Aufmerksamkeit, die Jünger den Fragen der Macht in Dostojewski Romanen schenkt, ist ein charakteristischer Interpretationszug, der auch dem russischen Leser überraschende Perspektiven bietet. So kann man in der Gestalt Aljoschas ein "priesterliches" und in der Gestalt von Sswidrigailow ein "fürstliches" Element der Macht (vgl. "Das abenteuerliche Herz. Figuren und Capriccios") erkennen, was einem prima facie nicht einleuchtet. Gleichzeitig begegnet man bei Jünger auch einigen Mißverständnissen. So schreibt er in "Siebzig verweht III" (15. Mai 1984) über seine "Komplexe gegenüber Byzanz und der Ostkirche": "Sie kommt mir vor wie ein Zweig, der nach der Eroberung der Stadt verdorrt ist und unerwartet wieder aufgrünt, wie in Dostojewskis Werk."

Natürlich findet man bei Dostojewski das christliche Element stärker ausgeprägt als bei Gogol oder Tolstoj, aber seine Sujets und Figuren (wie der Mönch Zossima oder der Novize Aljoscha in "Die Brüder Karamazow") sind alles andere als "unerwartet", denn sie erwachsen aus der lebendigen Geschichte der russischen Orthodoxie. Die Potenzierung der Machtfragen macht Jünger auf eine seltsame Weise unempfindlich gegenüber Dostojewskis mystischer Religiosität, die etwas mehr ist als nur die reinigende Kraft des "Schmerzes". Dafür aber trifft er mit dem schönen Epigramm aus dem Jahre 1934 den Kern der Sache: "Der russische Christus ist auferstanden, aber er hat die Erde noch nicht abgestreift". In solchen Sätzen manifestiert sich die Größe des Lesers Ernst Jünger.

 

Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk - von den "Stahlgewittern" bis zu "Siebzig verweht V". Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also "Spuren-Lesen". Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.

Foto: Fjodor Michaijlowitsch Dostojewski (1821-1881)

 

Dr. Alexander Michajlovskij ist Dozent an der Philosophischen Fakultät der Higher School for Economics in Moskau. Er hat Ernst Jüngers "Arbeiter" und die zweite Fassung des "Abenteuerlichen Herzen" sowie Friedrich Georg Jüngers "Nietzsche" ins Russische übersetzt.

Im Rahmen dieser JF-Serie sind bislang Beiträge von Alexander Pschera über Hermann Löns (JF 05/05), Léon Bloy (JF 09/05), Franz Kafka (JF 14/05), Aldous Huxley (JF 18/05) und Otto Weininger (JF 28/05) erschienen sowie ein Beitrag von Harald Harzheim über Maurice Barrès (JF 23/05).


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