© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/05 12. August 2005

Die Geißel des Fundamentalismus
Karen Armstrong analysiert das Erstarken des religiösen Fanatismus bei den Weltreligionen
Klaus Motschmann

Die öffentlichen Auseinandersetzungen in Deutschland werden bekanntlich durch wenige Schlagworte nachhaltig beeinflußt. Dazu gehört seit einiger Zeit und in zunehmendem Maße das Schlagwort "Fundamentalismus". Es spricht viel dafür, daß es schon bald eine ähnliche Rolle spielt wie bislang das (Tot-) Schlagwort "Faschismus", das durch einen jahrelangen inflationären und vielfach grotesken Gebrauch allmählich an Aussagewert verliert.

Der Begriff "Fundamentalismus" ist seit über hundert Jahren die relativ klar definierte Selbstbezeichnung einer protestantischen Bewegung in den USA, die sich mit teilweise aggressiven Kampagnen gegen die - tatsächliche oder auch nur vermeintliche - Zersetzung der Fundamente des christlichen Glaubens durch Liberalismus, Säkularismus und moderne naturwissenschaftliche Theorien zur Wehr setzt. Ein spektakuläres Musterbeispiel in der Geschichte des Fundamentalismus in den USA bietet der vielzitierte "Affenprozeß" im Jahr 1925 in Tennessee. In diesem von Fundamentalisten angestrengten Verfahren sollte die Behandlung von Darwins Evolutionstheorie im Schulunterricht verboten werden.

Die Fundamentalisten haben diesen Prozeß zwar verloren, dafür aber einen Beweis für die Vorherrschaft des Säkularismus und Liberalismus in der Gesellschaft der USA erhalten, der sie zu einer noch massiveren Verteidigung ihrer Standpunkte veranlaßte. Die vermeintlich widerchristliche Evolutionslehre in allen wissenschaftlichen Ausprägungen ist bis heute noch immer ein Ansatzpunkt der Fundamentalisten für scharfe Kritik am Schul- und Bildungssystem der USA - und damit an den maßgebenden Kräften in Gesellschaft und Politik, insbesondere auch an den christlichen Kirchen, die dieser Entwicklung nicht entschieden genug entgegengetreten sind.

Mit dem sogenannten Affenprozeß wurden die bis heute vorherrschenden Maßstäbe für die Beurteilung des Fundamentalismus gesetzt, die in der Regel auf eine Verurteilung hinausläuft. Nach landläufiger Meinung haben seine Anhänger für "Demokratie, Pluralismus, religiöse Toleranz, Friedenssicherung, Redefreiheit oder die Trennung von Staat und Kirche nichts übrig" (Karen Armstrong). Dabei wird geflissentlich übersehen, daß die schärfste Kritik am Fundamentalismus von den beiden christlichen Kirchen geübt wird.

Sie stellen in Aktion und Argumentation des Fundamentalismus ein sehr verengtes Bibel- und Weltverständnis fest, vor allem aber auch einen absolutistischen Wahrheitsanspruch, der einen verantwortungsvollen Dialog über eine christliche Antwort auf die tatsächlichen Herausforderungen dieser Zeit und dieser Welt erschwert, vielfach unmöglich macht. Diese Kritik am Fundamentalismus sollte aber nicht von der Feststellung entbinden, daß er Positionen vertritt und verteidigt, die zumindest in großen Teilen auch von den Kirchen vertreten werden müßten - aber nicht mehr vertreten werden.

Eine Erklärung dafür ist die um sich greifende Furcht vor dem Fundamentalismus-Vorwurf, der gegen alle erhoben wird, die sich dem Wandel von einem transzendenten zu einem immanenten Welt- und Geschichtsverständnis widersetzen. Sie verstoßen damit gegen die "Fundamente" der Aufklärung, in dem das "Écrasez l'infâme! ("Rottet den schändlichen Aberglauben aus!") keine unbedeutende Rolle spielte. Vielmehr war es der ideologische Anstoß für nicht minder aggressive und militante Kampagnen aller möglichen "Aufklärer" in Geschichte und Gegenwart. Ihre Kritik am Fundamentalismus zielt also nicht in erster Linie auf eine bestimmte Bewegung religiöser Eiferer ab, auch nicht auf bestimmte Dogmen der christlichen Kirchen, sondern auf jegliche Religion.

"Kritik der Religion ist Voraussetzung aller Kritik" lautet ein Kernsatz des "wissenschaftlichen Sozialismus". Die politischen Konsequenzen dieses ideologischen Fundamentalismus sollten bekannt sein. Insofern ist es wissenschaftlich und politisch unredlich, alle möglichen Religionen und religiösen Bewegungen unter dem Rubrum "Fundamentalismus" zusammenzufassen. Von dem sonst so energisch vertretenen Prinzip der "Differenzierung" ist im Zusammenhang dieser Auseinandersetzung wenig zu spüren.

Die Kritik am "Fundamentalismus" ist also hundertfünfzig Jahre älter als die Bewegung des Fundamentalismus in den USA. Aus dieser Feststellung ergeben sich Probleme der Beurteilung und Verständigung. Zu deren Klärung liefert das angezeigte Buch der englischen Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong einen wesentlichen Beitrag. Armstrong gelangt aufgrund ihrer umfangreichen Untersuchungen zu diesem Thema zu dem Schluß, daß dieser Begriff "in einer alles andere als befriedigenden Weise auf alle möglichen Reformbewegungen angewandt wird. Das verleitet zu der Annahme, beim Fundamentalismus handele es sich in allen seinen Formen um eine monolithische Erscheinung. Jeder Fundamentalismus folgt jedoch seinen eigenen Gesetzen und birgt seine eigene Dynamik." Es sei zwar richtig, daß alle Fundamentalismen als Reaktion auf bestimmte geschichtliche Herausforderungen zu verstehen sind und in den jeweiligen allgemeinen Krisensituationen den Ausweg allein in der Umkehr zu den (verschütteten) Quellen ihrer Religion sehen.

Deshalb wollen sie nicht weiter mit dem Strom in eine ungewisse Zukunft schwimmen, sondern gegen den Strom zurück zu den Quellen ihrer Religion - "ad fontes". Das bedeutet konkret Widerspruch gegen einen "Zusammenfluß" aller Ströme zu einer großen Einheit, wie sie den Aufklärern trotz aller gegenteiliger Erfahrungen auch heute noch vorschwebt.

Armstrong belegt diese These mit umfang- und materialreichen religionsgeschichtlichen Darstellungen der Entwicklung des Christentums, des Judentums und des Islam seit der großen "kopernikanischen Wende" der europäischen Geschichte um 1500. Wie immer man diese Entwicklung auch beurteilen mag: Tatsache ist (und auf "Tatsachen" kommt es den Aufklärern doch so sehr an), daß der religiöse Fundamentalismus keinesfalls "abgestorben" ist, wie es manche Propheten in ideologischer Verblendung immer wieder vorausgesagt haben. Im Gegenteil. Den Fundamentalisten ist es trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten gelungen, der Religion "wieder eine Hauptrolle auf der Weltbühne zuzuweisen, die keine Regierung ungestraft ignorieren kann".

Die Kritik am Fundamentalismus kann nur dann glaubwürdig vertreten werden, wenn sie berücksichtigt, daß sein unerwartetes Erstarken in vielen Ländern in einer "dialektischen Beziehung zu einem aggressiven Säkularismus (steht), der wenig Respekt vor der Religion und ihren Anhängern hatte. Säkularisten und Fundamentalisten scheinen bisweilen in einer Abwärtsspirale der Feindschaft gefangen zu sein."

Mit den bisherigen Methoden der "Aufklärung" lassen sich die tatsächlichen und vermeintlichen Probleme mit dem Fundamentalismus nicht lösen. Zweihundertfünfzig Jahre Erfahrung mit dem Aufklärungs-Fundamentalismus sollten zu dieser Einsicht ausreichen. Einstweilen ist das in Deutschland noch nicht der Fall. Deutliche Anzeichen sprechen aber dafür, daß ein Prozeß der Neubesinnung in Gang kommt. Karen Armstrongs Buch hat dazu einen wesentlichen Anstoß geliefert.

Karen Armstrong: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. Siedler Verlag, Berlin 2004, 608 Seiten, gebunden, Leinen, 28 Euro

Foto: Juden, Moslem und christliche Nonne in Jerusalem: Der Religion wieder eine Hauptrolle zugewiesen


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