© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/05 19. August 2005

"Mein Bruder und mein Papst"
Georg Ratzinger über Benedikt XVI., die Krise des Glaubens und den Irrweg einer "Modernisierung" der Kirche
Moritz Schwarz

Herr Prälat, im April wurde Ihr Bruder Joseph Kardinal Ratzinger zum Nachfolger Johannes Pauls II. gewählt. In dieser Woche weilt Benedikt XVI. erstmals in Deutschland. Betrachten Sie ihn in erster Linie als Ihren Bruder oder als Ihren Papst?

Ratzinger: Er ist sowohl mein Bruder als auch mein Papst. Es gibt ein scholastisches Axiom, das da lautet "gracia non destruit naturam" ("Die Gnade zerstört die Natur nicht"): Die natürliche Realität bleibt also auch angesichts der Dinge des Glaubens unverändert erhalten.

Wie gestaltet sich der persönliche Umgang mit ihm?

Ratzinger: Dann sind wir Brüder. Aber wenn er als Papst Benedikt XVI. der Kirche eine Botschaft mitteilt, übernehme ich diese wie jeder andere Priester auch.

Aus Anlaß des Weltjugendtages kommt Benedikt XVI. nach Köln. Im Bewußtsein vieler junger Menschen dort war der ab 1978 amttierende Papst Johannes Paul II. "immer schon da". Vor wenigen Monaten haben sie nun miterlebt, wie jemand, der bis dahin noch ein "einfacher" Kardinal und normaler Mensch war, plötzlich zum Stellvertreter Christi auf Erden geworden ist.

Ratzinger: Natürlich ist der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden, aber gleichzeitig ist er unzweifelhaft doch auch weiterhin ein Mensch wie jeder andere auch - gracia non destruit naturam! Die meisten Gläubigen kennen das "Wechselbad der Gefühle" der öffentlichen Meinung nicht, das zwischen vorschneller und hochmütiger Kritik am Papst einerseits und einem aufwallenden Gefühl tiefster Verehrung andererseits hin und her schwankt. Ich kritisiere das nicht, ich weise nur darauf hin, daß unser Verhältnis ein anderes ist.

Aber der Rang "Stellvertreter Christ" ist doch mehr als nur ein Titel.

Ratzinger: Selbstverständlich. Aber schon als Bischof ist man Angehöriger des Apostelkollegiums. Die Veränderung, die Sie ansprechen, ist also nicht erst mit der Weihe zum Papst eingetreten. In der katholischen Kirche ist selbst der einfache Priester nicht nur ein Funktionsträger, sondern Vertreter des Bischofs. Das heißt, er ist auserwählt, er ist geweiht für den Dienst Christi. Der Gedanke des Funktionalen, den moderne Kreise analog zur evangelischen Kirche auch bei uns einführen wollen, dokumentiert ihr tiefes Unverständnis der katholischen Kirche.

Wen meinen Sie konkret?

Ratzinger: Denken Sie zum Beispiel an Gruppen wie: "Kirche von unten" oder "Wir sind Kirche"!

Sie halten das nicht für eine Erneuerung, sondern für eine Verfehlung des Katholizismus?

Ratzinger: Eine Verfehlung der geistigen Struktur unseres Glaubensgebäudes.

Ist das dann noch Kirche?

Ratzinger: Meines Erachtens nicht, denn die Vorstellungen dieser Gruppen sind so weit weg von der eigentlichen Kirchenwirklichkeit, daß man von einer Trennung in der religiösen Substanz sprechen muß.

Woher kommen diese Tendenzen?

Ratzinger: Es ist sozusagen der Tribut an die Zeit, in der wir leben.

Sie meinen das typisch abendländische Problem, zu sehr mit dem Verstand an den Glauben heranzugehen und zu versuchen, ihn zu funktionalisieren, statt Gott um Seiner selbst willen zu verehren?

Ratzinger: Das Problem ist in der Tat zum einen die Dominanz des Rationalen, zum anderen aber die Tendenz, die Modelle, denen wir überall begegnen, auch auf Bereiche zu übertragen, auf die sie gar nicht passen, wie etwa die Kirche.

Wie zum Beispiel die Transponierung des Modells der Demokratie aus Politik und Gesellschaft auf Glaube und Kirche?

Ratzinger: Zum Beispiel. Dabei verkennt man, daß das konstituierende Element des Glaubens die Wahrheit Gottes ist. Wer aber meint, über den Glauben abstimmen zu können, der verliert sein Geheimnis.

Also mehr Gemüt statt Verstand?

Ratzinger: Sicher, aber das Problem reicht noch tiefer. Ich sprach vom "Tribut an unsere Zeit": Wir sehen uns im Westen einer totalen Säkularisierung gegenüber. Der Bezug zum Heiligen, das Empfinden für das Überweltliche ist vielen Menschen verlorengegangen.

Die Aufklärung als Fluch, als "lebensgefährliche Erkrankung des menschlichen Geistes", wie sie Joseph Ratzinger - damals noch Kardinal - in seinem Buch "Glaube, Wahrheit, Toleranz" genannt hat?

Ratzinger: Die Welt, die uns umgibt, okkupiert uns so sehr, daß das Verständnis für die Welt Gottes bei vielen verlorengegangen ist. Sogar unter den Gläubigen ist das Verständnis für die innere Wahrheit des Glaubens geschwunden. Entscheidende Grundlagen werden heute selbst von praktizierenden Christen nicht mehr verstanden, geschweige denn anerkannt. Das ist Ausdruck einer wirklich tiefen Krise.

Über Kardinal Kasper soll Ihr Bruder einmal gesagt haben, was Kasper vertrete, habe im Grunde nichts mehr mit Katholizismus zu tun.

Ratzinger: Davon weiß ich nichts. Ich kann es mir auch nicht vorstellen - ich schätze Kardinal Kasper jedenfalls anders ein. Aber es stimmt, daß es selbst Kardinäle gibt, die von diesem Substanzverlust erfaßt sind. Etwa der Brüsseler Kardinal Godfried Daniels, dessen Äußerungen nach meiner Auffassung nicht mehr mit dem katholischen Bewußtsein vereinbar sind.

Umstritten ist auch Kardinal Lehmann, der nach Ansicht von Kritikern offensichtlich nicht gewillt ist, solchen Tendenzen ernstzunehmenden Widerstand entgegenzusetzen.

Ratzinger: Nein, ich glaube, daß dieses Bild von einigen aus einer tendenziösen Überempfindlichkeit heraus auf Kardinal Lehmann projiziert wird. Es stimmt, daß er ein Mann der leisen Töne ist. Aber dieser keineswegs ehrenrührige Umstand wird mitunter vorschnell als Preisgabe des Glaubens mißverstanden. Da tut ihm die Kritik unrecht.

Die Krise der Kirche ist einfach zu bewältigen, wenn man den zahlreichen in den Medien zu Wort kommenden innerkirchlichen Kritikern glauben darf. Die Kirche muß sich einfach modernisieren.

Ratzinger: Das ist eine ebenso populäre wie unsinnige Forderung. Sicherlich stimmt, daß Kirchenvertreter nicht immer mutig genug sind, aber eher in Hinsicht darauf, daß man aus einer Unsicherheit heraus vielfach dazu neigt, ohne genügenden Widerstand jeden Unfug, der sich in der Kirche breitmacht, zu tolerieren.

Wer ist dafür verantwortlich?

Ratzinger: Es geht nicht darum, einen Schuldigen zu benennen. Das ist zu einfach. Es hat der Geist der modernen Zeit in der Kirche Platz gegriffen, und man muß verstehen, daß nicht jeder imstande ist, diesem zu widerstehen. Im Christentum liegt die Verantwortung bei jedem einzelnen. Aber es ist nur menschlich, daß viele dieser Verantwortung nicht gewachsen sind.

Die Kirche hat versucht, auf die Krise mit dem II.Vatikanischen Konzil von 1962 bis 1965 zu reagieren. Warum ist das mißlungen?

Ratzinger: Das Konzil ist eine ungeheuer vielschichtige Veranstaltung gewesen. Heute gibt es viel Kritik an dem Konzil. Die Reaktion auf das II. Vatikanische Konzil steht in Übereinstimmung mit der Reaktion auf frühere Konzilien. Einerseits überzeugte Annahme und Begeisterung, andererseits scharfe Zurückweisung. Das Problem ergibt sich daraus, daß die meisten Kritiker, aber auch viele Befürworter, die Texte des Konzils nicht kennen, sondern aufgrund eines konstruierten "Konzilsgeistes" agieren. Jeder, der nach seinem Gusto in der Kirche etwas verändern möchte, spricht davon, der "Geist des Konzils" gebiete es ... Völlig gleichgültig, ob das auch nur im entferntesten etwas mit dem Konzil zu tun hat oder nicht. Da ist ein Mißbrauch des Konzils erheblichen Ausmaßes im Schwange, und der "Geist des Konzils" ist in Wirklichkeit meist eher der Geist derer, die sich auf ihn berufen, als der authentische Inhalt des Konzils. Nicht zuletzt trägt das natürlich bei den konservativen Kritikern des Konzils nicht unwesentlich zu seinem schlechten Ruf bei.

Wie würden Sie die Wahrheit des Konzils beschreiben?

Ratzinger: Das Konzil steht voll auf dem Boden des Glaubens. Es hat ihn im Ganzen eindrucksvoll formuliert. Ich glaube, das Konzil ist eine Chance, die wir bis heute noch nicht recht zu nutzen gewußt haben.

Joseph Ratzinger, der das Konzil damals sehr unterstützt hat, sprach später durchaus davon, daß man sich Illusionen gemacht habe und vieles ein Fehler gewesen sei.

Ratzinger: Ich glaube nicht, daß er authentische Konzilstexte als fehlerhaft erklärt hat. Die nachkonziliaren Schwierigkeiten liegen vor allem im Bereich der Liturgie, wofür aber wohl nicht die Konzilstexte selbst, sondern die nachkonziliare Liturgiereform verantwortlich ist.

Die im Zuge einer allgemeinen Modernisierungsmode nach dem Konzil im Schwange war.

Ratzinger: Das war der Geist der Zeit. Die Fenster auf! Manchem konnte der Umgang mit dem Alten gar nicht rabiat genug sein.

Müßte das Konzil also nicht doch in einigen Punkten revidiert werden?

Ratzinger: Ein Konzil ist kein Parlamentsbeschluß. Es ist die Stimme der Kirche, die unter dem Einfluß des Heiligen Geistes spricht. Nötig ist ein verantwortungsbewußter Umgang mit dem Konzil, für seine glaubensauthentische Deutung. Im Mittelpunkt muß wieder das Hineinwachsen in den Geist des Glaubens, sein authentisches Verstehen und das Lernen, ein Leben in seinem Zeichen zu führen, stehen. Modernisierungen sind in ein paar Jahren veraltet. Auf diese Weise gibt die Kirche ihren überzeitlichen Schatz preis und verwandelt sich in eine beliebige Institution. Fortschritt ist nicht Rückschritt, aber Rückkehr: Rückkehr zur Nachfolge Christi.

Hat die Kirche denn den Mut dazu?

Ratzinger: Mir ist klar, daß man damit so manches Mißverständnis riskiert und sich so manchen "Feind" macht. Wer wider den Stachel des Zeitgeistes löckt, der muß darauf gefaßt sein, daß ihm der Wind voll ins Gesicht weht. Das muß die Kirche aber aushalten und deshalb auch den Mut zu in den Augen der medialen Öffentlichkeit unpopulären Entscheidungen haben. Die Kirche darf nicht vergessen, daß sie nicht allein vor dem Heute, sondern vor der Ewigkeit bestehen muß.

Ihre Ermunterungen in Ehren, aber dieses "Zurück" wird in der öffentlichen Debatte doch noch nicht einmal diskutiert, geschweige denn praktiziert. Wenn Sie die Debatten in den Medien, etwa auch wieder jetzt anläßlich der Beiträge zum Weltjugendtag, über und auch mit der Kirche verfolgen, dann ist nur von der Frage der "Modernisierung" die Rede.

Ratzinger: Das Problem ist, daß die Auswahl der Debattenteilnehmer- und themen vor allem durch die Journalisten bestimmt wird. Die sind natürlich an einer Modernisierungs-Debatte wesentlich mehr interessiert als an einer Debatte über die Rückkehr zu unpopulären, aber fundamentalen Glaubenswahrheiten. Zudem ist es leider populär, nur über Äußerlichkeiten statt über Inhalte der Kirche zu sprechen - bevorzugt über solche Dinge, die das Interesse unsere modernen Gesellschaft widerspiegeln.

Sie meinen, zum Beispiel die Zölibats-Debatte als Projektion der Sexualisierung oder Ökumene als Projektion der Multikulturalisierung unserer Gesellschaft?

Ratzinger: Eben, das enthüllt die wahren Vorlieben und verhüllt das wirklich Wichtige, nämlich die Fragen des Glaubens. Dabei haben doch alle die protestantische Kirche als warnendes Beispiel vor Augen, wo diese "Reformen" viel weiter fortgeschritten sind und dennoch die Situation noch viel zugespitzter ist. Ich weiß nicht, was sich die "Drewermänner" und "Küngs" dabei denken ... Tatsache ist aber, daß keiner die inzwischen offensichtlichen Schwachstellen ihrer Ideen erkennt, denn sie sind nach wie vor die Lieblinge der Medien.

Das bedeutet, man ist nicht nur von den richtigen Antworten noch weit entfernt, sondern sogar von der richtigen Fragestellung. Wo bleibt da die Hoffnung?

Ratzinger: Das ist genau der Punkt!

Also was tun?

Ratzinger: Ich möchte keine falsche Versprechungen machen und auch nicht verhehlen, für wie verfahren ich die Situation halte. Andererseits aber hat mir die Reaktion auf den Tod Johannes Pauls II. doch auch Mut gemacht. Es war doch sehr ermutigend, zu sehen, wie beliebt ein Papst doch in Wirklichkeit war, der in so vielem als so unzeitgemäß galt und immer wieder schwersten Angriffen ausgesetzt war. Auch wenn ich keine Antwort auf Ihre Frage habe, so gibt die Anerkennung, die dieser Papst gefunden hat, doch Hoffnung für die Zukunft.

 

Prof. Dr. Georg Ratzinger: Der Bruder Papst Benedikts XVI. ist päpstlicher Ehrenprälat und Apostolischer Protonator. Der Kirchenmusiker war von 1964 bis 1994 Domkapellmeister in Regensburg und wurde als Leiter der Regensburger Domspatzen weltweit bekannt. Geboren wurde er 1924 in Altötting und 1951 zusammen mit seinem Bruder zum Priester geweiht.

 

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