© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/05 26. August 2005

Mit zweierlei Maß gemessen
Iran: Verhandlungen über Atomprogramm gescheitert / "Chirurgische" Schläge durch USA oder Israel denkbar
Alain de Benoist

Die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm sind in einer Sackgasse angelangt. Aus schwerverständlichen Gründen haben die drei Vertreter der EU (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) von Iran verlangt, einen wesentlichen Bestandteil des Nuklearzyklus, die Uran-Anreicherung, zu unterlassen - unter dem Vorwand, diese könne zur Herstellung einer Atombombe dienen. Nicht ganz zu Unrecht weigern sich die Iraner, dieser Forderung nachzukommen. Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, den der Iran unterzeichnet hat, gibt ihm sehr wohl das Recht, eine Anlage zur Uran-Anreicherung zu bauen. Also nahmen die im November 2004 stillgelegten Anlagen Ispahan und Nantanz ihren Betrieb wieder auf.

Das iranische Atomprogramm wurde vor über dreißig Jahren, noch zu Zeiten des Schahs, mit dem Einverständnis der Amerikaner auf den Weg gebracht. Die Iraner haben stets versichert, daß sie sich lediglich für den zivilen Gebrauch der Kernenergie interessieren, doch ganz offensichtlich will man ihnen nicht glauben. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) wird nun am 3. September einen neuen Bericht veröffentlichen. Danach könnte der Uno-Sicherheitsrat eingreifen. Eine neue internationale Krise größeren Ausmaßes kündigt sich an.

Diese Krise wirft grundsätzliche Fragen auf. Die "offiziellen" Atommächte USA, Rußland, China, Frankreich und Großbritannien, die "halboffiziellen" Indien und Pakistan sowie die "inoffizielle" Atommacht Israel und die angebliche Atommacht Nordkorea haben niemals irgend jemandes Erlaubnis dafür eingeholt. De facto bilden die fünf erstgenannten Länder ein Direktorium, das seit 1968 die "Weiterverbreitung" von Atomwaffen bekämpfen will, obgleich es sich nur auf eine zweifelhafte Legitimität berufen kann. Tatsächlich ist kaum einzusehen, warum bestimmte Staaten zugleich das Recht, Atomwaffen zu besitzen, und das Recht haben sollen, andere Staaten daran zu hindern, sie sich zu verschaffen.

Der Iran wäre nicht die erste islamische Nuklearmacht, denn Pakistan hat bereits Atomwaffen. Nun war letzterer Staat unmittelbar in verschiedene terroristische Aktivitäten verwickelt. Die USA, die ihn sich zum Verbündeten gemacht haben, haben sich dennoch mit seiner nuklearen Kapazität abgefunden. Israel, das über ein enormes Arsenal von über 400 Atombomben verfügen soll, hat niemals offiziell zugegeben, Atommacht zu sein, und der IAEA niemals gestattet, seine Anlagen zu inspizieren. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

"Massenvernichtungswaffen" und "nukleare Bedrohung"

Viele Kritiker des iranischen Programms legen überdies ein Unverständnis der nuklearen Logik an den Tag, die vor allem auf dem Gedanken der Abschreckung beruht. Atomwaffen sind nicht so sehr offensive Waffen als vielmehr eine Schutzgarantie des nationalen Territoriums. Als Atommacht wäre der Iran vor Angriffen von außen geschützt. Genau das wollen die Amerikaner und Israelis nicht.

Die eigentliche Gefahr liegt darin, daß in einer bestimmten Weltregion ein einziger Staat über Atomwaffen verfügt. Ein solches Monopol verschafft dem betreffenden Staat die Kontrolle über die gesamte Region. Sobald zwei Staaten in derselben Region Atomwaffen besitzen, kehrt wieder ein Gleichgewicht ein. Wäre Indien oder Pakistan die alleinige Atommacht, gäbe es Anlaß zur Beunruhigung. Daß beide Staaten praktisch zum selben Zeitpunkt über Atomwaffen verfügten, sorgt für gegenseitige Abschreckung. Im Nahen Osten weigert sich Israel kategorisch, auf die Vorteile seines Monopols zu verzichten und zuzulassen, daß ein Nachbarstaat Nuklearwaffen entwickelt.

Nach ihrem Fiasko im Irak sind die USA derzeit unentschieden, ob sie sich in einen dritten Golfkrieg stürzen wollen. Die neokonservativen "Falken" machen jedoch kein Hehl aus ihren Absichten. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney arbeiten bereits an einem Angriffsplan gegen den Irak. Ein Bodenkrieg mit Besetzung ist wenig wahrscheinlich, da die USA, deren Truppen schon im Irak und in Afghanistan festsitzen, nicht über genügend Soldaten verfügen, um in einen Staat einzufallen, der viermal so groß und dreimal so bevölkerungsstark ist wie der Irak. Hunderte von "chirurgischen" Schlägen auf strategische Ziele mit Neutronenbomben, Marschflugkörpern und neuen, lasergesteuerten "Bunker-Knacker"-Bomben gegen unterirdische Anlagen sind dagegen sehr wohl möglich.

Die politischen und geopolitischen Folgen könnten immens sein. Rußland und China (die ein Vetorecht im Uno-Sicherheitsrat haben) sowie Indien würde es aus unterschiedlichen Gründen schwerfallen, nicht zu reagieren.

Momentan spielt die "nukleare Bedrohung" durch den Iran dieselbe Rolle wie die "Massenvernichtungswaffen", die der Irak angeblich bereithielt. Ein neuer Krieg könnte eine ungeheure Provokation vom Ausmaß der Anschläge des 11. September 2001 auslösen. Weiterhin besteht die Gefahr eines israelischen Angriffs auf die iranischen Nuklearanlagen. Ein solcher Angriff zöge Vergeltungsschläge nach sich, in deren Folge den USA keine andere Wahl bliebe, als sich militärisch zu engagieren. 2006 droht im Nahen Osten ein gefahrenreiches Jahr zu werden.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph, ist Herausgeber von "Eléments" sowie Chefredakteur von "Nouvelle Ecole" und "Krisis".


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