© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

Nur mit Gewalt zusammengehalten
Irak: Die neue Verfassung kann die ethnisch und religiös gespaltene Gesellschaft nicht miteinander versöhnen
Günther Deschner

Mit schwülstigen Worten, einer Eilmeldung über den "Durchbruch" und langweiligen "Familienbildern", wie man sie von EU-Gipfeln kennt, wurde letzten Sonntag in Bagdad der Entwurf für eine neue irakische Verfassung vorgelegt. Mit den ersten Sätzen beweihräuchert man den Mythos der großen Geschichte: "Wir, die Söhne Mesopotamiens, des Landes der Propheten, der Wegbereiter der Kultur und der Schöpfer des Alphabets, der Wiege der Arithmetik. In unserem Land wurde das erste von Menschenhand geschriebene Gesetz eingeführt, und von unserer Nation wurde die erhabenste Ära der Gerechtigkeit in der Politik der Völker verwirklicht."

Abgesehen davon, daß der Irak mit den Hochleistungen Mesopotamiens so viel und so wenig zu tun hat wie die ägyptischen Fellachen mit dem Bau der Pyramiden, kann die schwülstige Präambel nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Entwurf keine Gewähr für eine "erhabene Ära", für die Gestaltung eines freien, demokratischen, einigen und dauerhaften irakischen Staates darstellt. Der Startschuß für einen islamisch-demokratischen Musterstaat und für die Bildung einer gesamtirakischen Identität ist er nicht. Er berechtigt hinsichtlich der Einheit des Irak nicht einmal zu besonderen Hoffnungen.

Vieles wurde in diesem Papier angesprochen, aber wichtige Fragen sind offengeblieben. Es trägt deutlich die Handschrift der Schiiten und der Kurden. Sie haben auf keine ihrer Kernforderungen verzichtet, zum Beispiel zur Schaffung einer Föderation und weitgehend autonomer Regionen. Die Sunniten fühlen sich übergangen. Zahlreiche ihrer Führer haben schon angekündigt, daß sie bei dem für Oktober vorgesehenen Referendum den Verfassungsentwurf ablehnen werden. Theoretisch könnte es ihnen durchaus gelingen, das löchrige Regelwerk zu Fall zu bringen.

Zwar verfügen Kurden und Schiiten mit zusammen gut 80 Prozent Bevölkerungsanteil über eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen. Doch wenn sich in nur drei der 18 irakischen Provinzen zwei Drittel der Wähler gegen den Entwurf aussprechen, dann kann er an den Sunniten scheitern. In vier Provinzen stellen sie die eindeutige Mehrheit.

Die schiitischen und die kurdischen Mitglieder des Verfassungskonvents sahen offenkundig keine Notwendigkeit, sich ausführlicher mit den Forderungen ihrer sunnitischen Kollegen zu befassen. Und überdies drückten genervte US-Vertreter aufs Tempo. Das ist dem Verfassungsentwurf nicht gut bekommen. Der Irak der Zukunft soll "demokratisch" sein, "parlamentarisch" und "föderal". Was das konkret bedeutet, wie die Antworten auf die Kernfrage der Bundesstaatlichkeit präzise lauten, das hat man der Zukunft überlassen.

Ein "Unionsrat" soll gebildet werden. Welche Aufgaben und welche Kompetenzen gegenüber den Regionen er haben soll, soll "später" geregelt werden. Daß es sich bei allen denkbaren Interpretationen nicht um ein föderalistisches Modell wie in Deutschland handeln kann, ist von vornherein klar. Es ist schwer, die inneren Gegensätze der ethnisch und religiös gespaltenen irakischen Gesellschaft miteinander zu versöhnen. Wahrscheinlich ist es sogar unmöglich.

Der Irak wurde in den zwanziger Jahren von den Briten (zu denen der junge Kolonialbeamte Winston Churchill gehörte) aus drei sehr unterschiedlichen Provinzen des einstigen Osmanischen Reiches am Reißbrett zusammengeschustert. Die Briten benutzten die sunnitisch-arabische Minderheit rund um Bagdad, um ihre Kreation zu beherrschen. Die schon damals überwältigende Mehrheit der schiitischen Araber im Süden und die von jeher freiheitsliebenden Kurden im Norden wurden von Macht (und Wohlstand) ferngehalten.

An diesem Webfehler seiner Entstehung krankt der Irak bis zum heutigen Tag. Seitdem es den Irak gibt, war und ist er ein unidentisches Land. Spannungen, Aufstände, Bürgerkriege, Unterdrückung: Ob in den Jahren des britischen Mandats, ob im 1932 etablierten Königreich oder in der 1958 ausgerufenen Republik - immer mußte der widernatürliche Staat mit Gewalt zusammengehalten werden. Saddam Husseins Sturz 2003 bedeutete gleichzeitig das Ende des Regimes der sunnitisch-arabischen Minderheit und ihrer Privilegien. Der Terror und das herrschende Chaos in Bagdad und im sunnitischen Dreieck sind überwiegend das Werk deklassierter Sunniten. Sie befürchten nicht grundlos, daß jetzt sie es sein werden, die sich mit dem Status einer vernachlässigten Minderheit abfinden sollen.

Kurden und Schiiten sind die eindeutigen Gewinner im Irak

Kurden und Schiiten sind in der neuen Realität des Irak die Gewinner, und der Entwurf für eine neue Verfassung wird das nicht ändern. Die Kurden bauen darauf, daß sie ihre de-facto-Autonomie, über die sie seit 1991 (seit der Einrichtung der nördlichen Flugverbotszone) verfügen, weiter ausbauen können. Die Regierung der bislang aus drei irakischen Provinzen bestehenden Autonomen Region Kurdistan hat eine funktionierende Verwaltung aufgebaut.

Kurdistan ist im Vergleich zu Bagdad "ein sicherer Hafen". Die Wirtschaft wächst, erste Investoren kommen ins Land - hier liegen 40 Prozent der Ölreserven des Irak. Seit fast 15 Jahren wird an den Schulen auf kurdisch unterrichtet, an den fünf Universitäten auf kurdisch und auf englisch. Die jungen Leute sprechen nicht mehr arabisch. Die Kurden haben eine eigene Armee (Pesch Merga) mit einer Präsenzstärke von 50.000 Mann, die sie um keinen Preis aufgeben werden. Die überwältigende Mehrheit der Kurden im Nordirak (beim Referendum Ende Januar 2005 waren es 97,77 Prozent!) würde einen eigenen Staat vorziehen. Der Irak ist kaum mehr als ein aufgezwungenes, lästiges Thema. Ex-US-Außenminister Henry Kissinger brachte es etwas überspitzt auf die Formel: "Man braucht schon ein Mikroskop, wenn man herausfinden will, was den von den Kurden erreichten Status von der vollen Unabhängigkeit unterscheidet."

Der Verfassungsentwurf sichert den Kurden ihre Autonomie ausdrücklich zu. Sie sind bislang die eindeutigen "Sieger". Im schiitischen Lager mehren sich die Stimmen, im Süden eine ähnliche Autonomie für ein theokratisch abgetöntes "Schiitistan" aufzubauen. Die Sunniten fühlen sich als die großen "Verlierer", und sie sind es auch.

Immer lauter werden die Ängste vor einem regelrechten Bürgerkrieg. Die USA, die mit dem Angriff auf den Irak und dem erzwungenen Systemwechsel ein leuchtendes Beispiel multikultureller und multiethnischer Demokratie errichten und den mittleren Osten noch ein bißchen weiter aufrollen wollten, beobachten diese Entwicklung mit einem wahrnehmbaren Zittern. Warum und ob sie noch länger - wie schon seinerzeit beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens - am Erhalt einer so drastischen Fehlkonstruktion wie dem Irak festhalten, wird eine der Fragen der Zukunft sein.

Foto: Volksvertreter Talabani (Kurde, M.), Mahdi (Schiit, r.) und al-Jawar (Sunnit, l.): Ängste vor Bürgerkrieg


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