© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/05 02. September 2005

Ziegenhirten für die Wissensgesellschaft
Subproletariat statt Leistungsträger: Die Chancen für eine große Bildungsrevolution in Deutschland stehen schlecht
Doris Neujahr

Wie gern möchte man den Politikern glauben, die von der Wissensgesellschaft fabulieren, in die sich Deutschland ab jetzt verwandeln soll. Klar doch, nur mit Wissen, Intelligenz, Erfindergeist kann dieses rohstoffarme Land sich auch in Zukunft einen gewissen Wohlstand sichern. In der Sprache von Angela Merkel: "Wir können nur soviel teurer sein, wie wir besser sind." Besser heißt: mehr Hoch- und Zukunftstechnologie, mehr Patente, mehr hochwertige Produkte, vor allem aber: mehr Hochqualifizierte, in relativen und absoluten Zahlen, als andere Länder.

Nun kann niemand behaupten, daß die Bildungspolitiker in den letzten Jahren untätig geblieben sind. Die neue Pisa-Studie fällt günstiger aus als die erste. Bund und Länder haben 1,9 Milliarden Euro für eine "Exzellenzinitiative" bereitgestellt, um deutsche Forschungseinrichtungen auf internationales Spitzenniveau zu hieven. Rund 200 Hochschulen und 20 Universitäten haben sich dafür beworben, wie SPD-Forschungsministerin Edelgard Bulmahn voller Stolz mitteilt. Das ist mehr als gar nichts, aber es ist zu spät, zu wenig, zu inkonsequent!

Die Summe, um die es hier geht, macht das Jahresbudget einer jener amerikanischen Spitzenuniversitäten aus, die Bulmahn als Vorbild im Auge hat. Die deutschen Universitäten können mit den zusätzlichen Groschen keine Aufholjagd starten, sondern allenfalls das Tempo, mit dem Harvard ihnen enteilt, ein wenig drosseln. Doch nicht einmal das ist sicher, denn die Basis-Budgets werden weiter gekürzt.

Und im Kleingedruckten der neuen Pisa-Studie ist zu lesen, daß ein Viertel der Schüler als "Risikoschüler" verbucht werden. Sie sind am Ende der Schulzeit außerstande, eine Bewerbung zu verfassen. Sie sind die künftigen Sozialfälle. Zum Intelligenz- und Wissensreservoir, aus dem die avisierte Bildungsgesellschaft schöpfen muß, können sie nichts beitragen. Unter den ehernen Gesetzen der Demographie wird ihr Anteil zunehmen und das Reservoir trotz aller Bemühungen weiter schrumpfen.

Pädagogen stellen Zunahme sozialer Verwahrlosung fest

In modernen Gesellschaften prägen und antizipieren die Großstädte die allgemeine Entwicklung. In Berlin sind zwölf Prozent der Schulabgänger überhaupt nicht vermittlungsfähig. Ihnen fehlen grundlegende Kenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch soziale Fähigkeiten wie Pünktlichkeit, Fleiß, Stetigkeit, Respekt, Verantwortungsgefühl, Eigeninitiative usw. Weitere 41 Prozent bedürften massiver Nachhilfe, um Mindestanforderungen zu genügen. Mehr als die Hälfte der Berliner Schulabgänger entspricht also nicht den Anforderungen einer modernen Arbeitsgesellschaft, nicht zu reden von der Bildungsgesellschaft.

Lehrer beklagen sich, daß Kinder ungefrühstückt und ohne Pausenbrot in die Schule kommen, daß es ihnen an motorische Fähigkeiten mangelt, sie keine Schere halten, keine Schleife binden können. Sie können keine Farben benennen, haben keine Tischmanieren, ihr Wortschatz ist minimal. Die Pädagogen beschwören keine guten, alten Zeiten, sondern sie stellen nüchtern die signifikante Zunahme sozialer Verwahrlosung fest, gegen die ihre pädagogischen Bemühungen machtlos sind. Die wachsende Verwahrlosung hat nicht zuletzt demographische Gründe.

In den oberen und den Mittelschichten geht die Geburtenrate drastisch zurück, mehr als die Hälfte der Akademikerfrauen bleibt kinderlos. Wertvolles kulturelles Kapital - Bildungsgut, Wertorientierung, Techniken der Kultur- und Wissensaneignung, ästhetische Maßstäbe usw. -, das früher gleichsam organisch weitergegeben wurde, geht unwiderruflich verloren. Umgekehrt sind Frauen mit schlechter Schulbildung, die außerstande sind, kulturelles Kapital zu reproduzieren, weil sie selber über keines verfügen, ungebremst gebärfreudig. Auch früher sind die Unterschichten reicher mit Kinder gesegnet gewesen als andere, aber das numerische Mißverhältnis war nicht so groß, daß sich das Niveau an den Schulen so drastisch nach unten verschob.

Außerdem war die Qualität der Unterschichten eine andere. Vor allem waren sie den oberen durch die gemeinsame Sprache verbunden. Das ist heute längst nicht mehr Fall, der Abstand wird dadurch noch größer. 70 Prozent der türkischen Jugendlichen in Berlin verfügen über keinen Schulabschluß. In wenigen Jahren werden sie und ähnlich geartete Zuwanderergruppen in ihren Altersklassen die Mehrheit stellen, zumindest in den Großstädten.

Der Rektor der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, ein Erziehungswissenschaftler, hat im Juli den Zorn der politisch Korrekten - allen voran die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth - auf sich gezogen, als er unter Hinweis auf eine Grundschulstudie in Niedersachsen äußerte, der Intelligenzquotient deutscher Kinder sei höher als der von türkischen. Natürlich hatte Lenzen das Gefälle nicht genetisch begründet, sondern mit der fehlenden Sprachkompetenz türkischer Kinder, durch die ihre kognitiven - erkenntnisbezogenen - Fähigkeiten verkümmerten. Nicht nur, daß sie des Deutschen kaum mächtig sind, sie finden auch in ihren Elternhäusern usw. keine geistig anregende Atmosphäre vor.

Das ist kein Wunder. Während klassische Einwanderungsländer wie Kanada nach Ausländern Ausschau halten, die über Bildung, Sozialkompetenz und berufliche Perspektiven verfügen, hat Deutschland vorzugsweise "bildungsferne Schichten", vulgo: Analphabeten, Ziegenhirten aus Anatolien willkommen geheißen. Diese Saat geht jetzt auf.

Auch Familien, die bereits seit drei Generationen in Deutschland wohnen, haben, gemessen an ihrer deutschen Sprachkompetenz, noch nicht einmal das deutsche Unterschichtenniveau erreicht. Drei Generationen, rechnet die Soziologie, dauert ein sozialer Aufstieg. Nun wird er, wenn alles gutgeht, sechs Generationen dauern, mit den entsprechenden Mehrkosten und Nebenwirkungen natürlich. Selbst wenn man ausländischen Erstkläßlern, finanziert vom deutschen Steuerzahler, jetzt auf Anhieb alle nur denkbare Sprachförderung zuteil werden läßt, diese tatsächlich angenommen wird und eine maximale Wirkung erzielt, werden diese Kinder den in der frühkindlichen Phase entstandenen kognitiven Rückstand nach allen Erfahrungen nicht mehr aufholen können. Nicht zu reden von den älteren Schülern, die von diesen Maßnahmen gar nicht mehr oder kaum noch erreicht werden können.

Viele Abiturienten sind nicht reif für ein Studium

Natürlich gibt es auch "bildungsferne Migranteneltern", die ihre Kinder in Eigeninitiative fördern, oder Hochbegabte, die sich als Überflieger erweisen, aber sie sind Ausnahmen. Statt potentieller Hochleistungsträger wächst hier ein Subproletariat heran, das für den "Bildungsstandort Deutschland" eine kaum zu schulternde Hypothek darstellt.

Wenn Hunderttausende Kinder zunächst einmal die deutsche Sprache, soziales Regelwerk, einfache motorische und kognitive Fähigkeiten erlernen müssen, die früher als weitgehend selbstverständlich vorausgesetzt werden konnten, bedeutet das folgendes: Das Geld, das jetzt zusätzlich in die Bildung gesteckt wird, kann den kulturellen Kapitalstock und das Intelligenzreservoir keineswegs vergrößern, sondern wird ihren Schrumpfungsprozeß lediglich verlangsamen. Schon heißt es vereinzelt, man müsse den Gymnasien die Gelder kürzen und diese den Grundschulen zuweisen. Andererseits beklagen sich Hochschullehrer, daß viele Abiturienten gar nicht reif für ein Studium sind, hier also auch Verbesserungen nötig sind. Schließlich sollen sich aus den Studenten möglichst viele Spitzenkräfte rekrutieren. Die Katze beißt sich also in den Schwanz.

Der Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach, ein Berater von Ministerin Ulla Schmidt (SPD) und Kandidat der SPD für den Bundestag, hat vorgeschlagen, für alle Kinder ab drei Jahren eine Kindergartenpflicht einzuführen. Es geht ihm darum, die Kinder aus den "bildungsfernen" Milieus in einer möglichst frühen Entwicklungsphase zu erreichen. Die Kehrseite wäre eine Verstaatlichung der Kindheit, wie es sie noch nicht einmal in der DDR gegeben hat. Lauterbach ist kein eifernder Ideologe, sondern ein kluger Kopf, der um die Dramatik der Lage weiß und sie entschärfen will. Abgesehen davon, daß sein Vorschlag politisch und rechtlich kaum zu verwirklichen ist, wirft er die Frage auf, was aus den - mehrheitlich deutschen - Kindern würde, die aus behüteten Elternhäusern herausgerissen würden.

Ähnliche Fragen stellen sich angesichts der Pläne von PDS und Teilen aus SPD und Grünen, die eine zehnjährige gemeinsame Schulzeit anstreben. Statt Spitzen- und Sonderbegabungen zu identifizieren und zu fördern, wäre Gleichmacherei auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner die Regel. In derart zusammengewürfelten Klassenverbänden würden nicht die Arzttochter oder der Beamtensohn den Ton angeben, sondern der muslimische Macho.

Man kann die Dinge hin- und herwenden, wie man will: Die Chancen für eine große Bildungsrevolution hierzulande stehen schlecht, bestenfalls wird Flickwerk herauskommen. Und dies in einer Zeit, in der andere Länder in einem unglaublichen Tempo an Deutschland vorbeiziehen.

Spannungen nehmen zu, das Bildungsniveau sinkt

Die jetzt eingetretene Lage war vorhersehbar und ist auch vorhergesagt worden, aber die Entwicklung ist in Kauf genommen, ja forciert worden von "all den Guten, die geschwind / nun es nicht gewesen sind", wie Bertolt Brecht nach 1945 höhnte. Würde man sie jetzt alle auf Hartz IV setzen und ihnen eine erfolgsabhängige Zuverdienstmöglichkeit bei der Nachhilfe für Ausländerkinder zuweisen - nicht als Strafe, sondern als Möglichkeit zu tätiger Reue selbstverständlich -, es würde bei weitem nicht ausreichen, um die Entwicklung umzukehren.

Eine ganz andere Zukunftsvision könnte daher Wirklichkeit werden: Die Schulen werden noch mehr zum Austragungsort sozialer Spannungen. Kluge Köpfe wird es immer geben, aber insgesamt wird das Bildungsniveau sinken. Daraus folgt, unter anderem, die Primitivierung der Wählerschaft, die komplexen Argumentationen noch weniger zugänglich ist als heute. Um so empfänglicher wird sie für egalitäre Parolen sein, Parteien mit der Forderung, die "Besserverdienenden" zu schröpfen - wobei die Verdienstgrenze immer weiter sinkt -, bekommen Zulauf. Die interkulturelle Verständigung wird Wirklichkeit - auf Da-Da-Niveau. Hochkultur und Wissenschaft werden als elitär und entbehrlich diskriminiert. Die wirklich Reichen entschließen sich zum Ritt über den Bodensee in die Schweiz, Hochbegabte wandern nach Amerika, Indien oder China aus. Deutschland wird sich peu à peu in eine DDR verwandeln. Die wurde in den letzten Jahren von vielen Bewohnern so buchstabiert: Der Doofe Rest.

Foto: Proleten-Komiker-Duo Erkan & Stefan in dem Film "Der Tod kommt kraß": Interkulturelle Verständigung auf Da-Da-Niveau


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