© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

"Eine Art Staatsbankrott"
Der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Starbatty über das verschwiegene Wahlkampfthema Staatsverschuldung
Moritz Schwarz

Herr Professor Starbatty, die in den letzten Jahrzehnten exorbitant angestiegene Staatsverschuldung droht die Bundesrepublik Deutschland mittlerweile finanziell zu strangulieren. Im TV-Duell Merkel/Schröder am Sonntag war allerdings von keiner Seite ein Wort dazu zu hören. Ein verschwiegenes Wahlkampfthema?

Starbatty: Unsere Schulden sind unter allen Regierungen weiter angestiegen, und ihre Bekämpfung ist bekanntlich nicht ohne ganz erhebliche soziale Einschnitte möglich. Kein Wunder also, wenn die Parteien allesamt nicht gerne darüber reden. Weder wollen sie an ihre Verantwortung erinnern, noch wollen sie die Leute so kurz vor der Wahl mit der Aussicht auf soziale Grausamkeiten verschrecken. Dabei steht der Politik, uns allen das Wasser bis zum Hals.

Bund, Länder und Kommunen sind zusammen mit 1,43 Billionen Euro verschuldet.

Starbatty: Das ist schon dramatisch genug, doch tatsächlich läßt diese Statistik den Faktor der zukünftigen Belastung außer acht: nämlich die Verschuldung, die sich aufgrund unserer Alterssicherung - also zur Finanzierung der Renten und Pensionen - künftig ergibt. Diese Belastung beträgt - unter der Voraussetzung, daß sich die Gesetze nicht ändern - 270 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Die aktuelle Verschuldung liegt bei 67 Prozent.

Starbatty: Wir sehen also einer Verschuldung von rund 340 Prozent entgegen: eine unglaubliche Belastung für die Jugend! Der Spiegel hat von der "veruntreuten Zukunft" gesprochen. Richtiger wäre es, von der "veruntreuten Jugend" zu sprechen.

Sie sprechen von "künftig", gibt es eine Jahreszahl, auf die sich die Berechnung bezieht?

Starbatty: Die Belastung ergibt sich aus der Entwicklung der Produktivität der Arbeit sowie der Wochen- und Lebensarbeitszeit einerseits und der Ausgestaltung des Rentensystems andererseits. Mittels einer Modellrechnung läßt sich auch eine konkrete Zahl zu einem bestimmten Zeitpunkt ausrechnen. Die 340 Prozent beschreiben aber eine allgemeine Entwicklung, die klarmacht, wohin die Reise geht.

Fünf Prozent Tilgung im Jahr würde bedeuten, rund 66 Jahre Zeit, bis die Schulden abgebaut sind. Doch derzeit redet die Politik gar nicht über Tilgung, sondern lediglich über Bremsung der Neuverschuldung. Nehmen wir also einmal optimistisch 0,5 Prozent Tilgung an. Das würde bedeuten, rund 660 Jahre bis zum Abbau der Schuld. Ein Jahrtausendprojekt?

Starbatty: Auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Voraussetzung für den Schuldenabbau ist allerdings, daß die Wachstumsbremsen gelöst werden, das Produktionspotential stärker wächst und Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu gehören auch Reformen wie Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit, die Flankierung durch ein Kapitaldeckungsstockverfahren und vor allem eine Reorganisation der Sozialsysteme; denn das Hauptproblem ist neben der Zinslast unser Sozialstaat: Zusammen machen diese beiden Posten über 62 Prozent des Bundeshaushalts aus - zum Vergleich, 1964 beispielsweise waren es 33 Prozent. Dann kann der Finanzminister sparen, wie er will; es ergeht ihm wie dem berühmten Hasen, der, immer wenn er einen neuen Anlauf gemacht hat, auf das Igel-Defizit trifft, das schon da ist.

Wie realistisch ist es, zu erwarten, daß die Politik die Schulden künftig abbauen wird?

Starbatty: Der Vorteil der Demokratie ist, daß man Politiker abwählen kann. Der Nachteil ist, daß sie Aufgaben auf die lange Bank schieben und aus der Verantwortung treten - zumeist lange, bevor die Konsequenzen ihrer Politik die Gesellschaft erreichen. Es ist also notwendig, daß die Politik eine neue Praxis und ein neues Bewußtsein entwickelt, ich möchte es den Stil der "respektvollen Führung" nennen: also den Bürger über die Konsequenzen bestimmter Politiken aufzuklären und ehrliche Alternativen anzubieten.

Ist es wirklich wahrscheinlich, daß dieser Paradigmenwechsel eintritt, ist nicht eher anzunehmen, daß "weitergewurstelt" wird und sich die Verschuldung bis zum Staatsbankrott steigert?

Starbatty: In Großbritannien, Neuseeland, Skandinavien, den USA, teilweise auch in Holland hat es funktioniert. Warum also nicht auch bei uns?

Warum sollte es plötzlich zum Auftauchen solcher Politiker beziehungsweise zum plötzlichen Wechsel der bisherigen Politiker zu diesem neuen Stil kommen?

Starbatty: Man hat in der Geschichte immer wieder erlebt, daß sich in einer entsprechenden Situation der "man of the system", also der Parteifunktionär, in einen "man of the state", also einen Staatsmann, verwandelt hat.

Sehen Sie denn ein konkretes Anzeichen dafür?

Starbatty: Ich bin überzeugt, daß etwa Angela Merkel den Willen hat, den Weg in diese Richtung zu beschreiten.

Wenn sie sich - wie am Sonntag - heute schon nicht traut, das Problem anzusprechen, warum sollte sie sich morgen trauen, es anzupacken?

Starbatty: Indirekt hat sie es durchaus angesprochen, nämlich beim Thema Steuern.

Ist das nicht ein wenig zu leise angesichts einer solchen Herausforderung?

Starbatty: Die Berufung ihres Personals für das Kompetenzteam ist ebenfalls ein deutliches Zeichen.

Sie sprechen von Paul Kirchhof?

Starbatty: Ja, ich denke aber auch - wenn auch nicht im Team - an Politiker wie Friedrich Merz.

Angela Merkel hat doch bereits erklärt, daß ein Finanzminister Kirchhof seine reine Lehre nicht verwirklichen können wird, sondern daß er politisch Rücksichten nehmen müsse.

Starbatty: Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Bundeskanzlerin Merkel sich damit begnügen wird, lediglich an den Stellschrauben des Sozialsystems zu drehen; ich denke, sie wird einen grundlegenden Richtungswechsel einleiten.

Indizien, Andeutungen, "zwischen den Zeilen lesen" - das klingt doch alles sehr dünn.

Starbatty: Ich habe Frau Merkel bei verschiedenen Vorträgen und Diskussionen erlebt, auch in einem kleinen privaten Kreis, wo man offener sprechen kann. Mein Eindruck war: Sie hat mehr Mut als ihre männlichen Kollegen.

Orientieren wir uns in Ermangelung einer Überprüfungsmöglichkeit an der letzten CDU-Bundesregierung: Unter dieser stieg die Verschuldung kontinuierlich an, obwohl auch schon damals die dringende Notwendigkeit zum Schuldenabbau deutlich war.

Starbatty: Helmut Kohl hat sich nie sehr für die Innen- und Wirtschaftspolitik interessiert. Seine Domäne war die Außenpolitik, insbesondere die Europapolitik.

Allerdings hatte die Union auch damals kompetente Finanzminister wie Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel.

Starbatty: Man darf auch nicht vergessen, daß CDU/CSU und FDP damals Reformen - wenn auch zaghaft - angestoßen haben, die dann allerdings nach 1998 von der neuen Bundesregierung kassiert worden sind. Rot-Grün trat dagegen nicht mit dem Ziel an, die Schulden zu senken, sondern "die soziale Gerechtigkeit zu vollenden" - das ist naturgemäß mit Mehrausgaben verbunden.

Wie realistisch ist es, von der Union eine konsequente Haushaltskonsolidierung zu erwarten, etwa angesichts der Tatsache, daß sie ihr Modell einer Kopfpauschale aus dem Steuersäckel finanzieren will? Die Schätzungen für die Aufwendungen liegen zwischen 25 und 40 Milliarden Euro.

Starbatty: Unser Sozialsystem ist, was die Kosten angeht, völlig intransparent. Es bedarf daher einer grundlegenden Umgestaltung, und insofern gibt es keine Alternative zur Kopfpauschale. Wer die Beiträge dafür nicht aufbringen kann, dem muß aus dem Steuertopf geholfen werden - das stimmt. Aber der Vorteil der gewonnenen Transparenz ist unschätzbar.

Ist eine Reform nicht eher von einer vielleicht noch entstehenden neuen freiheitlich-bürgerlichen Kraft, einer ganz neuen Partei, zu erwarten als aus den Reihen der erstarrten Etablierten?

Starbatty: Ich habe selbst früher solche Überlegungen angestellt, doch mittlerweile haben mir die Erfahrungen gezeigt, daß eher mit der Reformfähigkeit der Etablierten als mit dem Entstehen einer ernstzunehmenden reformerischen politischen Kraft zu rechnen ist.

Würde eine konsequente Politik des Schuldenabbaus nicht auf Widerstand im Volk stoßen? Schon die vergleichsweise geringen Einschnitte durch Hartz IV haben im letzten Jahr zu einer Protestwelle und zu massivem Auftrieb für Protestparteien von links und rechts geführt.

Starbatty: Deshalb brauchen wir ja eine neue Ehrlichkeit in der Politik, damit wieder Vertrauen entsteht.

Laut einer Infratest-Umfrage vom Juni halten 84 Prozent der Deutschen einen Abbau der Staatsverschuldung für "wichtig" beziehungsweise "sehr wichtig", auch wenn dafür "einschneidende Sparprogramme" notwenig sind. Gleichzeitig wächst das Potential von Protestparteien sprunghaft an.

Starbatty: Das ist das bekannte Problem. Die Leute sind fürs Sparen - "aber bitte nicht bei mir!" Diese Einstellung muß sich natürlich ändern. So wie wir ein neues Verantwortungsbewußtsein bei den Politikern brauchen, brauchen wir auch ein neues Verantwortungsbewußtsein bei den Bürgern.

Woher soll die Veränderung dieses Bewußtseins auf einmal kommen?

Starbatty: Man muß den Leuten klarmachen, daß die Sozialsysteme unserer Volkswirtschaft notleidend sind und daß es einer umfassenden Operation bedarf, um sie zu heilen. Wie jede Operation wird auch dieser Eingriff den Organismus zunächst einmal schwächen. Dafür ist danach aber mit einer grundsätzlichen Gesundung zu rechnen.

Sie sprechen davon, Abschied vom deutschen Sozialstaat zu nehmen?

Starbatty: Nein, ich spreche davon, Abschied zu nehmen von einer Interpretation des Sozialstaates, die erst im Laufe der siebziger Jahre entstanden ist: eine Variante, die nicht mehr die Eigenleistung in den Vordergrund stellt und die soziale Komponente als Verpflichtung gegenüber all denjenigen versteht, die sich nicht selbst helfen können, sondern Anspruchsdenken und Bequemlichkeit in Gestalt von sozialer Bevormundung befördert hat. Vor diesem Paradigmenwechsel waren die Deutschen gewöhnt, Leistung und Eigenverantwortung zu zeigen. Anfang der siebziger Jahre aber begannen die Ausgaben für die Sozialleistungen die Investitionen zu übersteigen - seitdem leben wir mit einem beständigen Ressourcenverzehr.

Ein Sozialstaat à la "Achtundsechzig"?

Starbatty: Der Geist der Achtundsechziger hat sicherlich eine verhängnisvolle Rolle gespielt, aber ich würde ihm nicht die Hauptschuld an der Misere zuschieben. Da haben noch viele andere ihr Scherflein beigetragen.

Tritt der Mentalitätswechsel nicht ein, kommt aber die Katastrophe?

Starbatty: Falls sich die Politiker nicht trauen, das heiße Eisen anzupacken, haben Sie recht.

Wie genau würde diese aussehen?

Starbatty: Das wäre eine Art Staatsbankrott. Die Menschen, die auf die staatlichen Sicherungssysteme vertraut haben und in sie einen großen Teil ihres Einkommens einbezahlt haben, ständen mittellos da. Die "veruntreute Jugend" könnte sich weigern, für die Alten weiter aufzukommen. Genau deswegen müssen die Sozialsysteme "umgesteuert" werden.

 

Prof. Dr. Joachim Starbatty lehrt Volkswirtschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und ist Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft soziale Marktwirtschaft. Der 1940 in Düsseldorf geborene Wirtschaftswissenschaftler wurde 1998 bundesweit bekannt, als er zusammen mit drei Kollegen eine Verfassungsklage gegen die Einführung des Euro einreichte.

 

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