© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Eine angekündigte Katastrophe
New Orleans: Der Untergang der Südstaatenmetropole war abzusehen, die Folgen für die USA sind es noch nicht
Michael Howanietz

Die künstliche Eindämmung, de ren runder Form New Orleans den Beinamen "Sichelstadt" verdankt, konnte die Überflutung der größten Stadt im US-Bundesstaat Louisiana nicht abwenden. Die Dämme sind auf Flutwellen bis fünfeinhalb Metern ausgelegt. Wirbelstürme der Kategorie fünf, zu denen auch "Katrina" zählte, können aber Sturmfluten von über acht Metern auftürmen.

Die evidente Gefährdung der Südstaatenmetropole war Experten lange vor dem 29. August 2005 bekannt. Mehrjährige Computer-Simulationen des lokalen Hurrikanzentrums nahmen das von "Katrina" hinterlassene Schreckensszenario detailgetreu vorweg. Ob das aber direkt mit dem vom Menschen verursachten (anthropogenen) Treibhauseffekt zusammenhängt, darüber streiten die Experten - Hurrikane gab es seit Menschengedenken. 1965 erlebte New Orleans den bis dahin schlimmsten Hurrikan: "Betsy" setzte einen Großteil der Stadt unter Wasser.

New Orleans wird an drei Seiten von Wasser eingerahmt. Der Golf von Mexiko, der Mississippi und der nördlich gelegene Lake Pontchartrain umgeben den Kessel der Stadt, der durchschnittlich zwei Meter unter dem Meeresspiegel liegt und über keinen natürlichen Abfluß verfügt. Überdies liegt New Orleans direkt im Einzugsgebiet der Tropenstürme, die sich zwischen Mai und Oktober ("Hurrikan-Saison") über dem erwärmten Atlantik bilden.

Die ungünstige Lage der Stadt wird durch gravierende Bau- und Umweltsünden verschärft. Über viele Jahrhunderte hat der Mississippi sein flaches Delta im Südosten Louisianas aufgebaut. Die von Springfluten angespülten Sedimente trockneten, verdichteten sich, sanken unter wachsendem Eigengewicht ab und wurden mit immer neuem Sand und Schlick überspült.

Um 1880 begann die US-Armee den Fluß mit Deichen zu umgeben, die Wohn- und Industriegebiete vor Überschwemmungen schützen sollten. Der Nachschub an Sedimenten versiegte, die Feuchtgebiete an der Flußmündung sanken ab, Meerwasser drang immer tiefer in die Marschlandschaften vor und tötete die Pflanzen ab. So verlor New Orleans im 20. Jahrhundert fast 5.000 Quadratkilometer der die Stadt einst großflächig säumenden Feuchtgebiete.

Das Mississippi-Delta konnte seine Funktion als natürliche Schutzbarriere nicht mehr erfüllen. Zusätzlich wurde die Strömungsdynamik des größten US-Flusses durch bauliche Eingriffe vom Oberlauf bis zur Mündung verändert. Die Eindeichungen und Ausbaggerungen tragen Mitschuld, wenn der Fluß seine ohnedies verringerten Sedimentfrachten nicht mehr im erforderlichen Maße im Delta aufschütten kann.

Da die Stadt selbst um einige Zentimeter pro Jahr absinkt, verstärkt sich der verheerende Effekt, den ein Vollaufen des als "Badewanne" titulierten Kessels zur Folge hat, sobald Dämme und Deiche - wie jetzt geschehen - brechen. Die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zur Trockenlegung der Sumpfböden installierten Pumpen sind veraltet und können die nach einer Überflutung anfallenden Wassermengen nicht ansatzweise bewältigen. Die stromabhängigen Pumpsysteme sind vom Totalausfall der Elektrizität natürlich mitbetroffen.

Das Verhängnis der 1718 gegründeten Stadt war absehbar und kann deshalb nicht auf "Katrina" reduziert werden. Es ist vor allem das Grundproblem der Übervölkerung unseres Planeten, das die Ansiedlung von Menschen in gefährdeten Gebieten und weitreichende Eingriffe in gewachsene Ökosysteme unumgänglich erscheinen läßt. Die Auswirkungen kurzsichtiger Manipulationen und verantwortungsloser Ansiedlungspolitik machte "Katrina" überdeutlich. Denn der Hurrikan ist ursächlich eine sinnvolle Einrichtung der Natur, ein Sicherheitsventil, das die in den Tropen aufgestaute Hitze freisetzt.

Die Verwüstungen, die der Wirbelsturm am Golf von Mexiko hinterließ, geben diesem freilich nicht den Charakter eines nützlichen Klimaregulators. "Katrina" wird als schwerste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA eingestuft. Die US-Staaten Louisiana, Alabama und Mississippi werden Jahre brauchen, um die Folgeschäden zu beseitigen. Die Zahl der Todesopfer liegt im fünfstelligen Bereich, jene der obdachlos Gewordenen ist siebenstellig.

Die 490.000-Einwohner-Stadt wurde zur Gänze evakuiert. In ihrem bis zu neun Meter hoch überfluteten Kessel treibt eine hochgiftige Brühe aus Seewasser, Öl, zahlreichen Chemikalien und nicht geborgenen Leichen. Es wird Monate dauern, ehe Wasserversorgung, Kanalisation und Infrastruktur einigermaßen wiederhergestellt sein werden.

Die meist landgestützten Hilfstransporte kamen zu spät und in den überschwemmten Gebieten kaum voran, was Kathleen Blanco, die demokratische Gouverneurin von Louisiana, von einem "logistischen Alptraum" sprechen ließ. Zusätzlich behinderten bewaffnete Plünderer tagelang die Bergemannschaften, weshalb über Teile der Krisenregion das Kriegsrecht verhängt wurde.

"Katrina" wird somit auch zum Fiasko der US-Gesellschaft - die angestauten Probleme aus der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, aus den Rassenkonflikten (über zwei Drittel der Bevölkerung von New Orleans waren Schwarze) gepaart mit freiem Waffenbesitz entluden sich ungehemmt in der Krisensituation. Die US-Krisenbewältigung glich zudem anfangs jener eines Entwicklungslandes.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Katastrophe sind durch sprunghaft gestiegene Spritpreise auch in Europa spürbar. Zahlreiche Ölplattformen im Golf von Mexiko wurden losgerissen oder sind gesunken. Die Erdöl-Produktion in der Region, die ein Viertel der gesamten Ölförderung der USA ausmacht, steht auf ungewisse Zeit still.

Umwelt-, Sach- und Wirtschaftsschäden sind nur die sichtbaren Spuren "Katrinas". Sind sie behoben, stehen die Bewohner der wegen latenter Seuchengefahr zur Gesundheits-Notstands-Zone erklärten Krisengebiete vor ihrem wirklichen Dilemma: Baut man seine Existenz ein zweites Mal an den Gestaden erlebten Unheils auf? Eine schwerwiegende Frage, denn es ist ein großer Unterschied, erworbene Besitztümer oder aber die Heimat zu verlieren.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen