© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/05 09. September 2005

Die deutsche Teilung konnte sie nicht spalten
Weimarer Klassik im Zeitenspiegel: Die Goethe-Gesellschaft feierte ihren 120. Geburtstag mit einem geschichtlichen Rückblick
Jörg Bernhard Bilke

Bei herrlichstem Sommerwetter konnte die internationale Goethe-Gesellschaft, die heute 3.900 Mitglieder in 55 Ländern vorzuweisen hat, am 28. August im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv in der Hans-Wahl-Straße ihren 120. Geburtstag feiern. Nach der Begrüßung der rund 80 Gäste, darunter Prinz Michael als Vertreter des Herzogshauses Sachsen-Weimar-Eisenach, durch den Präsidenten Jochen Golz und den Weimarer Oberbürgermeister Volkhardt Germer stand unter dem Titel "Die Goethe-Gesellschaft gestern und heute" die Geschichte der einzigen Literaturgesellschaft in Deutschland zur Diskussion, die an der deutschen Teilung 1949/89 nicht zerbrochen war.

Jochen Golz sprach in klugen und abwägenden Worten über den letzten Goethe-Enkel Walther, der am 15. April 1885 in Leipzig verstorben war und der Großherzogin Sophie (1824-1897) den literarischen Nachlaß vererbt hatte, der den Grundstock des Archivs bildete. Nach ihr ist die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken in 143 Bänden benannt, die 1975 noch einmal, wie in der Ausstellung im ersten Stock zu erfahren war, in Japan nachgedruckt wurde. Die am 20./21. Juni 1885 unter Schirmherrschaft des Großherzogs Carl Alexander (1818-1901) in Weimar gegründete Goethe-Gesellschaft habe bis 1914 "gute Jahre" erlebt. Wegen der 89. Hauptversammlung im Mai wurde die Feier ihres 120. Gründungstages auf Goethes 256. Geburtstag (28. August) verlegt.

Goethe als humaner Fluchtpunkt in der NS-Zeit

Was Golz vortrug, konnte man später im Vorwort eines von ihm vorgestellten Sammelbandes nachlesen. Dort ist die "Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland" in 14 Aufsätzen nachgezeichnet, nachdem es bisher nur Vorarbeiten von Wolfgang Goetz (1936), Karl-Heinz Hahn (1985) und Lothar Ehrlich (2000) gab.

Mit dem Präsidenten Gustav Roethe, der in schroffer Ablehnung der Weimarer Republik Goethe "unseren Freunde, unseren Helden, unseren Führer" nannte, wurde die Vereinnahmung der Gesellschaft durch das "Dritte Reich" 1933/45 vorbereitet, während Präsident Julius Petersen 1926/38 die Gesellschaft dem nationalsozialistischen "Aufbruch der Nation" zuordnete und damit ein "unrühmliches Beispiel geistiger Selbstnazifizierung" gab. Daß Goethe während der NS-Zeit aber auch "Trost und humaner Fluchtpunkt" gewesen sei, könne man in den nach 1945 veröffentlichten Büchern von KZ-Häftlingen wie Nico Rost und Jorge Semprun nachlesen.

Nach Petersens Ablösung im Präsidentenamt durch den Verleger Anton Kippenberg fand 1939 die letzte Hauptversammlung statt, das erste Jahrbuch nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1947. Die nächste Hauptversammlung konnte aber erst 1954 einberufen werden, als der Berliner Oberstudienrat Andreas Bruno Wachsmuth 1949 zunächst die Geschäftsführung und dann bis 1971, als er von Helmut Holtzhauer abgelöst wurde, die Präsidentschaft übernommen hatte.

Der SED war die Gesellschaft ideologisch verdächtig

Einer "listenreichen und diplomatisch geschickten ... Doppelstrategie" (Golz) Wachsmuths' sei es zu verdanken, daß die Gesellschaft 1967 nicht in zwei heterogene Teile auseinanderbrach, weil sie von SED-Politikern, die die Zwei-Staaten-Theorie auch praktisch umsetzen wollten, als "Agentur bürgerlicher Ideologie" verdächtigt wurde.

Mit Holtzhauer, der 1973 verstarb, und seinem Nachfolger Karl-Heinz Hahn blieb die Präsidentschaft bis 1990 in der Obhut einer "parteilich" ausgerichteten DDR-Germanistik, obwohl die Unterschiede nicht zu übersehen sind: ersterer ein vor 1945 politisch verfolgter Kommunist, dem seit 1954 die Nationalen Forschungs- und Gegenstätten in Weimar unterstanden und der 1960 zum Professor ernannt worden war; der andere wissenschaftlich ausgebildeter Germanist mit hohem Ansehen auch in Westdeutschland, der zudem, wie 2003 bekanntwurde, unter dem Decknamen "Mephisto" von Erich Mielkes Leuten "operativ bearbeitet" worden war.

Wie sich diese staatlich erwünschte Abgrenzungspolitik, die glücklicherweise nicht zur Spaltung führte, in der Praxis auswirkte, kann man in Günter Jäckels Erfahrungsbericht "Die Ortsvereinigung Dresden zwischen 1962 und heute" im genannten Sammelband nachlesen.


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