© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

Mit Schreckenswörtern gespickt
Die Wiederentdeckung des jüdischen Nietzscheaners Oscar Levy
Dietmar Busse

Es gibt einen Unterschied zwischen der Welt, die wir im Kopf haben, und der Welt, wie sie "wirklich" ist. Diese "wirkliche" Welt nannte Kant "das Ding an sich", das dem menschlichen Verstand nicht zugänglich ist, weil er "Realität" nur durch den Filter seinen Anschauungs- und Denkformen auffaßt. Diese in den zweihundert Jahren nach Kants Tod mittlerweile trivial gewordene Einsicht zog vor Jahren unter der Fahne des "Konstruktivismus" als Dernier Cri angelsächsischer Wissenschaftstheorie in bundesdeutsche Historische Seminare ein. Seitdem gilt alle Geschichtsschreibung als "Erfindung".

Dabei gibt es einen -geschichtspolitisch sogar zentralen - Sektor, auf dem Erfindung und Historie wirklich identisch zu sein scheinen. Das ist die Geschichte der Juden in Deutschland bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Jene Juden, die in zahllosen Gedenkreden und Beschwörungen der durch den Nationalsozialismus zerstörten deutsch-jüdischen Symbiose imaginiert werden, die Namenspatrone der Heinrich-Heine-Preise und Carl-von Ossietzky-Medaillen, sind tatsächlich kaum mehr als eine "Erfindung", vornehmlich des alt-bundesrepublikanischen Kultur- und Polit-Establishments. Dessen idealisierter Jude ist bevorzugt linksliberal, kosmopolitisch und assimilatorisch.

Schon der auf "Blut und Boden" fixierte Zionismus, der die deutsch-jüdische Geschichte spätestens in der Weimarer Republik mitbestimmt, fällt aus dieser Schablone heraus. Erst recht deutschnationale Juden, von denen es doch gar nicht so wenige gab. Man denke nur an den Historiker Ernst H. Kantorowicz, der im Herbst 1933 in seiner Frankfurter Abschiedvorlesung das "Geheime Deutschland" in einer Weise zelebrierte, die ihn heute in den Verfassungsschutzbericht katapultiert hätte. Noch weniger wahrgenommen als Konservative und veritable Reaktionäre solchen Schlages, höchstens als psychiatrische Fälle registriert, werden folglich die auch keineswegs nur mit der Lupe zu findenden jüdischen "Antisemiten", unter denen der junge Walter Rathenau der prominenteste ist.

Großes Erstaunen muß daher auslösen, wenn eine auf sechs Bände angelegte Werkausgabe eines solchen quer zum Zeitgeist stehenden jüdischen Judenhassers dem deutschen Lesepublikum offeriert wird. Es handelt sich um das Opus des nur noch Nietzsche-Spezialisten bekannten Kulturphilosophen, Übersetzers und Publizisten Oscar Levy (1867-1946), dessen erster Band jetzt erschienen ist. Nach der Lektüre der darin enthaltenen Nietzsche-Essays aus seinem lange vor 1914 freiwillig gewählten englischen "Exil" darf man besonders gespannt sein auf den sechsten Band. Der soll nämlich den Briefwechsel Levys mit dem Weimarer Nietzsche-Archiv bieten, der 1922 abbrach, weil die notorische Mixtur aus Geld- und Geltungsgier, für die "Nietzsches Schwester" und Erbin berüchtigt war, eine weitere Zusammenarbeit verhinderte.

Als Herausgeber einer achtzehn Bände umfassende Werkausgabe hatte Levy die Briten kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Nietzsche bekannt gemacht. Wie bald darauf die Haßtiraden der angelsächsischen Presse zeigen, die den Zarathustra-Sänger als Chefideologen der "Hunnen" denunzierten, war diesem Vermittlungsversuch kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Das traf auch den Vermittler, mit Verzögerung zwar, aber 1921 wurde Levy als unerwünschter Ausländer aus Großbritannien ausgewiesen. Erst 1938 durfte er zurückkehren.

Aber richtig unbeliebt machte sich Levy, den man während der Kriegsjahre kaum behelligte, nicht primär als "Nietzsche-Missionar", sondern nach Kriegsende als Fürsprecher britischer Hochtorys und Judenfeinde wie George Pitt-Rivers. Der wichtigste, hier abgedruckte und im Mittelpunkt des Essays "Mein Kampf um Nietzsche" stehende Text, Levys Vorrede zu Pitt-Rivers' Broschüre über die "Weltbedeutung der russischen Revolution" (1920), thematisiert die jüdische Urheberschaft des Bolschewismus. Dabei geht Levy weit über die Geschichtsspekulationen Pitt-Rivers' hinaus. Denn er macht seine, wie er sie nennt, "Rassegenossen", nicht allein für den Bolschewismus, sondern für eine menschheitliche Fehlentwicklung allergrößten Stils verantwortlich: Vom Judentum gehe der Unheilsweg zum Christentum. Von dort, ausgelöst durch Reformation und die "puritanische Revolution", sei auf der abschüssigen Bahn kein Halten mehr. Am Ende stünde die Herrschaft der von Nietzsche verachteten Masse, so daß zwischen Nationalismus, Demokratismus, Kapitalismus, Sozialismus und Bolschewismus, den "Ausgeburten der jüdischen Ideologie", keine wesentliche Differenz mehr zu erkennen sei, genausowenig wie zwischen "jüdischen und amerikanischen Geldmagnaten".

Mit dieser, allen Verschwörungstheorien über die Macht "Alljudas" ebenbürtigen, wenn nicht sie überbietenden Kampfschrift gegen die diversen "Sklavenaufstände" der Moderne haben die Herausgeber in ihrem sechzig Seiten umfassenden Nachwort erhebliche Mühe. Levys Schriften seien eben mit "Schreckenswörtern gespickt" wie "Rasse" oder "Eugenik". Ihnen fällt es deshalb sichtlich schwer zuzugeben, daß diesem im hinterpommerschen Stargard geborenen Juden, der vor dem "chauvinistischen" Wilhelminismus auf die Insel floh, daß ausgerechnet also dem potentiellen Wunschkandidaten kosmopolitischer Vereinnahmung und multikultureller Traditionserfindung, daß so einem der hierzulande vergötterte "weltoffene Mensch" herzhaft "zuwider" gewesen sei.

Hilflos darum auch ihre flaue Entschuldigung, Levys "dezidierte geistige Infragestellungen mancher Formen der zeitgenössischen politischen Kultur, namentlich der Parteiendemokratie und des Parlamentarismus" gehe auf sein "nomadisches Bewußtsein" zurück. Würde man in zeitüblicher Manier besinnungslos-generösen Gebrauch vom Antisemitismus-Vorwurf machen, fiele es nicht schwer, die Editoren aufgrund solcher Wortwahl zu stigmatisieren. Doch manch ahnungslose Anmerkung - etwa wenn sie den jüdischen Hohenzollern-Hasser Hermann Fernau mit dem Ufa-Bösewicht Rudolf Fernau verwechseln - belegt zur Genüge, daß hier gewiß kein böser Wille im Spiel ist, sondern Überforderung durch ein intellektuelles Judentum, das mit gängigen Schematisierungen kollidiert.

Obwohl die Editoren die Hauptfrage nach dem Zweck dieser aufwendigen und vom Verlag vorzüglich ausgestatteten Levy-Ausgabe, die Frage danach, welche Erwartungen sich mit der Reanimation eines jüdischen Judenfeindes verbinden, nicht beantworten, muß man Ihnen dankbar dafür sein, bereits mit diesem ersten Band einen Kontrapunkt gesetzt haben zu den herrschenden Simplifizierungen "deutsch-jüdischer Kultur". 

Foto: Oscar Levy (1895): Kontrapunkt zu herrschenden Simplifizierungen

Steffen Dietzsch, Leila Kais (Hrsg.): Oscar Levy: Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913-1937. Gesammelte Schriften und Briefe, Bd. 1. Parerga Verlag, Berlin 2005, 354 Seiten, Abbildungen, gebunden, 34,20 Euro


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