© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

"Reform unserer Reformfähigkeit"
Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel über den EU-Beitritt der Türkei, die Bundestagswahl und die deutsche Selbstblockade
Moritz Schwarz

Herr Professor Henkel, am 3. Oktober beginnen die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei.

Henkel: Ich sehe die Waage sich eher zugunsten der Pro-Argumente neigen. Zuvorderst würde ich "Dankbarkeit" nennen.

"Dankbarkeit" als Argument?

Henkel: Ja, denn die Türkei war als Mitglied der Nato einer der Beschützer Deutschlands vor der Gefahr des Kommunismus. Und das EU-Aufnahmeversprechen Deutschlands liegt schon über dreißig Jahre zurück.

Hatte die Türkei kein Eigeninteresse bei ihrem Beitritt zur Nato?

Henkel: Natürlich, aber die Türkei war nicht so stark vom Ostblock bedroht wie wir.

Wie kommen Sie darauf?

Henkel: Weil das strategische Hauptziel des Warschauer Paktes Mitteleuropa war. - Aber wir haben nicht nur deshalb Anlaß zur Dankbarkeit, sondern auch, weil heute 2,3 Millionen Türken in Deutschland einen großen Beitrag für unsere Wirtschaft leisten.

Handeln diese ebenso uneigennützig wie ihr Mutterland in Sachen Nato-Mitgliedschaft?

Henkel: Sie mögen spotten, aber was wäre, wenn alle Türken plötzlich nach Hause zurückkehrten? Deutschland würde stillstehen!

Betrachten Sie Dankbarkeit als eine Kategorie der Politik?

Henkel: Auf jeden Fall, denn wer sich nicht dankbar zeigt, der wird beim nächsten Mal im Stich gelassen. Ich befürworte den Beitritt aber auch, weil die Türkei das einzige islamische Land ist, das dabei ist, zu erfüllen, was ich gerne "das sympathische Dreieck" nenne: Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft. Letztere ist inzwischen schon so weit entwickelt, daß die türkische Wirtschaft gegenüber unserer aufholen kann.

"Offen über die Änderung unserer Verfassung sprechen"

Gibt es denn kein Argument für einen EU-Beitritt, das auf einen für Deutschland nutzenbringenden Aspekte abgestellt ist?

Henkel: Viele, einige habe ich schon genannt. Die Türkei könnte Vorbild für die anderen 43 islamischen Länder in der Welt sein. Das ist auch für die Sicherheit in Europa von großem Nutzen. Aber es gibt auch ernstzunehmende Gegenargumente, wie zum Beispiel die andauernde Diskriminierung der Frauen durch in Deutschland lebende türkische Männer im Namen der Religion oder die noch nicht abgebauten Defizite bei den Menschenrechten in der Türkei selbst.

Welche Rolle sollte zum Beispiel der Begriff "christliches Abendland" für Europa spielen?

Henkel: Damit sollte man sich nicht von anderen Kulturen abschotten. Die Bewahrung eigener Kultur ist sicher richtig, aber der Austausch zwischen den Kulturen ebenfalls. Ich bin zum Beispiel ein leidenschaftlicher Liebhaber von Jazzmusik, und die wurde bekanntlich nicht bei uns erfunden. Die Globalisierung ist auch deshalb so bereichernd, weil sie dem Individuum eine immer größere Möglichkeit an Kulturerlebnissen beschert.

Sie sehen keine Nachteile?

Henkel: Doch natürlich, denn es besteht die Gefahr, daß gleichzeitig die Vielfalt der kulturellen Angebote durch eine internationale Standardisierung abnimmt.

Sie beschreiben Kultur als erweitertes Konsumangebot. Hat sie nicht mit Identität zu tun?

Henkel: Sie ist beides. Der beste Weg, fremde Kulturen im eigenen Land zu pflegen, ist ihnen einen wichtigen Platz einzuräumen. Denken Sie etwa an die großen US-Städte, dort gibt es "Little Italy" oder ""Chinatown", dort leben die Kulturen friedlich nebeneinander, und die Leute finden es toll! Mit 8,9 Prozent hat Deutschland in der EU inzwischen den zweithöchsten Ausländeranteil. Es wird höchste Zeit, sich dieser Tatsache bewußt zu werden, anstatt sie zu ignorieren. Bieten wir den Türken einen Platz in unserer Mitte, nehmen wir die Bereicherung an, die sie darstellen, und hören wir auf, uns darüber zu beschweren. Allerdings, auch den Türken gehört etwas ins Stammbuch geschrieben, auch das kann man in den USA lernen: Integration ist vor allem eine "Holschuld" der Türken und weniger eine Bringschuld der Deutschen.

Am 3. Oktober 2003 - dem Tag der deutschen Einheit - haben Sie den "Konvent für Deutschland" mitgegründet, um einen Neubeginn für unser Land anzustoßen. Wieso halten Sie es für nötig, eine Reform mit der Besinnung auf das Nationale zu koppeln?

Henkel: Es geht dem Konvent nicht um einzelne Reformen wie die Renten-, Bildungs-, oder Steuerreform, sondern um eine Reform unserer Reformfähigkeit.

Wie ist Ihre Bilanz nach zwei Jahren?

Henkel: Verheerend - wenn ich frage, welches Gesetz wurde aufgrund unserer Arbeit geändert? Keines! Sehr erfolgreich - wenn ich frage, ist es gelungen, Debatten anzustoßen? Ohne die Initiative einiger Konventsmitglieder hätte es zum Beispiel die Föderalismus-Kommission nie geben!

Die ist allerdings gescheitert, und auch sonst hat sich nichts geändert.

Henkel: Sie haben recht, aber was soll der Konvent denn anderes tun, als Anstöße zu geben? Den Bundestag stürmen? Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet: "Der Mann, der den Berg wegräumte, war der gleiche, der den ersten Stein aufhob." Daß unser Projekt hochaktuell ist, kann man doch an der verfahrenen Situation nach der letzten Wahl am besten sehen.

Sie beklagen in Ihrem Buch "Die Kraft des Neubeginns" geistige Verkrustungen, die eine Änderung der Verhältnisse verhindern.

Henkel: Und genau da hat der Konvent schon etwas erreicht! Zum Beispiel können Sie heute über eine Änderung unserer Verfassung sprechen, ohne gleich als eine Art Verfassungsfeind dargestellt zu werden - so wie ich 1997 von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung quasi den Terroristen zum Abschuß empfohlen worden bin. Prantl hatte mich als "Verfassungsfrevler" qualifiziert und den Lesern den Artikel 20 des Grundgesetzes empfohlen, jenen Artikel, der zum Widerstand gegen die Abschaffung der verfassungsmäßigen Ordnung "aufruft". Das kann man schon als eine Zielmarkierung für Terroristen verstehen - die damals noch aktiv waren. Daraufhin erschienen Beamte des LKA bei mir, um zu prüfen, ob man mich schützen müsse.

"1933 bis 1945 - unser Schuldkomplex blockiert uns"

Sie gehen noch weiter und kritisieren, die deutsche "Schuldbeteuerung lähmt die nachwachsende Generation und verbaut die Zukunft".

Henkel: Es ist doch völlig klar, daß uns unser ewiger Schuldkomplex wegen der Ereignisse von 1933 bis 1945 blockiert. Ein Beispiel: "Mit unserer Geschichte, Herr Henkel, können wir uns doch keine Direktwahl des Bundespräsidenten leisten!" Beifall. Ich frage Sie, ist es nicht idiotisch, etwas, was die Gegenwart erfordert, zu unterlassen, weil es in der Vergangenheit mal als falsch beurteilt wurde? Übrigens: Hitler ist durch eine Parteienkungelei zur Macht gekommen, nicht durch Direktwahl. Der Verweis ist also obendrein auch noch sachlich falsch! Aber die Leute klatschen, nicken und sind davon überzeugt, daß das klug und weise ist, weil die Äußerung unserem Komplex entspricht. Der israelische Botschafter Shimon Stein hat mir mal gesagt, statt deutscher Schuldkomplexe wäre deutsche Verantwortung die richtige Reaktion auf Auschwitz.

Sie widmen sich in Ihrem Buch auch der Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkrieges, die Sie keineswegs als eindeutig, sondern als sehr verzwickt darstellen. Was hat das mit der Reform Deutschlands zu tun?

Henkel: Ich finde, wir sollten frei und nicht komplexbeladen über die Geschichte sprechen können. Die Historiker tun das ja inzwischen. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der amerikanischen Erfindung der "freedom of speech", der "Freiheit der Rede".

Verteidigen Sie deshalb auch den ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann?

Henkel: Zugegeben, seine Rede war unglücklich, aber es stimmt einfach nicht, daß er die Juden als "Tätervolk" dargestellt hat. Die Medien haben das einfach behauptet! Und es gibt leider Leute in Politik und Medien, die sich bevorzugt an Positionen abarbeiten, die derjenige, dem sie sie vorwerfen, gar nicht eingenommen hat. Jürgen Trittin etwa ist ein Meister darin.

"In einem freien Land müßte man alles öffentlich sagen können"

Der "Stern" hat das auch mit Ihnen versucht.

Henkel: Von über tausend Interviews, die ich gegeben habe, war das mit dem Stern das einzige, das ich je zurückgezogen habe, weil der Interviewer versucht hat, mich in die rechte Ecke zu drängen.

Hätten Sie nicht gegenhalten können, statt zurückzuziehen?

Henkel: Dieser Journalist hat meine Antworten so sinnentstellt und verkürzt zusammengestrichen und sortiert, daß sich meine Position in dem Text nicht mehr wiederfand. Ich habe dann später mit einem Artikel in der Welt am Sonntag gegenhalten können. Die Stern-Redaktion hat, so wurde mir berichtet, sich dann wohl auch gegen weitere Unterstellungen ausgesprochen und einen Leserbrief von mir abgedruckt.

Sie beklagen den Umgang mit Jenninger, Walser, Hohmann. Warum heute? Hätten diese Leute Ihren Beistand nicht 1988, 1998 beziehungsweise 2003 gebraucht?

Henkel: Mich hat damals keiner gefragt. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, zu allem Stellung zu nehmen. Jetzt aber habe ich mein Buch geschrieben und diese Fälle behandelt vor dem Hintergrund der damals noch frischen Hatz auf Hohmann.

Sie schreiben, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung sei ein "Glaubensartikel des modernen Deutschland". Ist das nicht starker Tobak?

Henkel: Ja, wollen Sie widersprechen? Das gehört quasi zu unserer geistigen Verfassung! Ich bewerte das gar nicht, ich stelle nur fest.

Sie meinen das als Kritik?

Henkel: Ganz und gar nicht.

Sie meinen, Sie kritisieren nicht, daß es so ist, sondern ...

Henkel: ... nur, wie wir damit umgehen. Ich will ihn nicht abschaffen, aber wir müssen lernen, ihn verantwortungsbewußt zu handhaben, so wie Botschafter Stein es mir nahelegte: statt kollektiver Schuld kollektive Verantwortung. Unter vier Augen können Sie doch fast alles äußern und werden oft sogar noch bestätigt - auch von Leuten, die sonst peinlich genau auf die politische Korrektheit achten. Damit ist doch alles gesagt: Denn in einem freien Land müßte man alles, was man unter vier Augen sagen kann, auch öffentlich sagen können! Ohne solche Blockaden hätten wir zum Beispiel längst schon ein Mehrheitswahlrecht statt der schwersten politischen Krise seit 1949.

Diese Krise ist doch nicht Folge des Wahlrechts, sondern der Unfähigkeit der großen Parteien, Wähler zu binden.

Henkel: Doch, mit einem Mehrheitswahlrecht hätten wir heute klare politische Verhältnisse. Aber Sie haben recht: Es ist auch die Folge des verhängnisvollen Wirkens von Demagogen wie Schröder und Lafontaine.

Ist das nicht zu einfach? Die Leute haben auch für Politikkonzepte gestimmt.

Henkel: Sicher, aber andere sind auf die Schalmeientöne dieser Volksverführer hereingefallen. In Deutschland wird derjenige gewählt, solange er glaubwürdig erscheint, der am meisten verspricht. Wer die Wahrheit sagt, wird vom Wähler bestraft. Das ist die Botschaft dieser Wahl!

Wählerschelte?

Henkel: Ja, denn wo kommen wir denn hin, daß man jetzt hören muß, Frau Merkel hätte nicht die Wahrheit sagen dürfen? Wir müssen die Leute aufklären.

Etwa über die Folgen der Kopfpauschale?

Henkel: Mit diesem denunzierenden Begriff hat Schröder das Steuerkonzept von Kirchhof verunglimpft und den Leuten eingeredet, in Zukunft müßten alle gleichviel Steuern zahlen. Das war glatt gelogen.

Sie schlagen eine Große Koalition vor.

Henkel: Nicht grundsätzlich, aber in der jetzigen Situation. Unter der Führung von Angela Merkel und Franz Müntefering. Schröder hat sich am Wahlsonntag mit seinem Fernsehauftritt - der kein Ausrutscher war, sondern sein wahres Wesen offenbart hat - hoffentlich auch für diejenigen endgültig disqualifiziert, die ihm bisher vertrauten. Diese große Koalition muß dann umfangreiche Reformen durchführen, von der Steuer- über die Föderalismus- bis hin zur Wahlrechtsreform. Der Konvent für Deutschland hat eine Liste der wichtigsten Reformen erarbeitet und auch Vorschläge zu deren Verwirklichung gemacht. So gesehen bietet diese Krise eine Chance zum Neuanfang! Wenn die Reformen erfolgt sind, die Große Koalition ihre Aufgabe erfüllt hat, könnten in zwei Jahren Neuwahlen stattfinden, um dann mit dem neuen System neu zu starten.

Warum unter Merkel?

Henkel: Sie ist die Führerin der Union.

Wie lange noch?

Henkel: Ich habe Merkel immer unterstützt.

Inhaltlich wäre Ihnen Merz doch lieber?

Henkel: Angela Merkel hat in meinen Augen - etwa mit der Berufung Paul Kirchhofs - mehr Mut bewiesen als alle anderen Politiker in der Union. Auch wenn mir ihr Programm noch viel zu zaghaft ist, vertraue ich ihr persönlich unbedingt.

"Das Volk ist nicht das Problem, das Problem sind die Parteien"

Rot-Rot-Grün hätte eine Mehrheit. Würde - nach den "sozialen Grausamkeiten" einer Großen Koalition - in zwei Jahren ein Linksbündnis nicht alle Reformen wieder aufheben?

Henkel: Ein Linksbündnis könnte es bei Mehrheitswahlrecht nicht geben.

Neutralisierung des Wählerwillens durch Wahlrechtsreform! Ist das nicht undemokratisch?

Henkel: Sehen Sie, Sie reagieren genau so, wie bisher stets darauf reagiert wird. Frankreich hat das Mehrheitswahlrecht auch eingeführt, als den Franzosen die Parteienzersplitterung langsam auf die Nerven ging. In England gibt es das Mehrheitswahlrecht seit Menschengedenken. Im übrigen kann man es demokratisch verändern, mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Klar, man muß den Leuten natürlich immer zuerst erklären, warum man das Wahlsystem verändern will und daß das dazu beitragen wird, die Probleme zu lösen. Das Volk will Reformen, das Volk will Regierbarkeit. Das Volk ist nicht das Problem. Das Problem sind die Parteien, die die Reformen für unser Land verhindern, weil diese sie ein Stück ihrer Macht kosten würden.

 

Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel war von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Geboren wurde Henkel 1940 in Hamburg. Heute ist der ehemalige IBM-Manager Vorsitzender der Leibniz- Gemeinschaft und Vorstandschef der Initiative Konvent für Deutschland. Außerdem veröffentlichte er mehrere Bücher, zuletzt "Die Kraft des Neubeginns" (Droemer, 2004).

Konvent für Deutschland: Am 3. Oktober 2003 in ebenjenem Saal des Berliner Hotels Adlon gegründet, in dem 1997 der damalige Bundespräsident Herzog seine "Ruck-Rede" hielt. Die politisch unabhängige Vereinigung zahlreicher Prominenter aus Politik und Wirtschaft hat sich die "Reform der Reformfähigkeit" der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel gesetzt.

Kontakt & Informationen: Konvent für Deutschland, Dorotheenstraße 35, 10117 Berlin, Telefon: 030 / 20 45 66 10, www.konvent-fuer-deutschland.de 

 

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