© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Kolumne
Der etwas andere Ruck
Klaus Motschmann

Im Frühjahr 1997 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede davon gesprochen, daß durch Deutschland ein "Ruck" gehen müsse, um aus der bereits damals sich abzeichnenden Krise herauszukommen. Auf diesen "Ruck" hat man also lange gewartet.

Nun hat er sich am 18. September tatsächlich ereignet, wenngleich er im Ausnahmezustand ideologischer Täuschungen und massenpsychologischer Enttäuschungen zunächst kaum wahrgenommen worden ist. Er wurde ausgelöst durch den Wahlsieg der Linkspartei/PDS, die im Bundestag nun über 54 Mandate verfügt. Wenn das kein "Ruck" ist, was dann? Die PDS hat damit nicht nur die voraussehbaren Verluste der rot-grünen Regierungskoalition nach dem Desaster ihrer "Reformpolitik" kompensiert und dem linken Lager erhalten, sondern vor allem den mit Sicherheit erwarteten "Ruck" nach rechts verhindert. Dazu wären nicht einmal die von der PDS praktizierten Tricksereien mit einer Namensänderung nötig gewesen. Man hat dem Bundeskanzler - zu Recht - vorgeworfen, daß er den Bezug zu den politischen Realitäten verloren habe. Diese Feststellung sollte allerdings auch im Blick auf das Verhalten der verantwortlichen Strategen des bürgerlichen Lagers gelten, die sich von der Illusion leiten ließen, nach einem jahrelangen gemeinsamen Kampf mit der Linken gegen Rechts noch die Kraft für einen eigenständigen "Ruck" gegen Links aufbringen zu können.

Bei der Beurteilung des Wahlergebnisses kommt es zudem nicht auf rechnerische Mehrheiten an, sondern auf die Beachtung der immer wieder bewährten Doppelstrategie sozialistischer Politik. Sie verfolgt ihre Ziele bekanntlich nicht allein auf parlamentarischen, sondern immer auch auf außerparlamentarischen Wegen. Es kommt der PDS also nicht in erster Linie auf möglichst hohe Wahlergebnisse an, sondern auf gute Voraussetzungen zur Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Veränderungen. Die zur Zeit ungewöhnlich deutliche Abgrenzung aller Parteien zur PDS, wie sie sonst nur gegenüber der politischen Rechten praktiziert wird, zielt also am entscheidenden Problem vorbei und muß als hilflose Reaktion auf den von der PDS ausgelösten "Ruck" verstanden werden. "Vor Tische las man es anders": daß man die PDS nicht ausgrenzen dürfe, sie sei durch viele Wahlen "demokratisch legitimiert", man dürfe den Wählerwillen nicht ignorieren. Man wird es bald wieder so lesen! Oder wo sind Ansätze einer realistischen Auseinandersetzung mit der PDS zu erkennen?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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