© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Erdrutsch an der Weichsel
Polen: Rechtsnationale stärkste Kraft bei Sejm-Wahlen / Liberale nur Zweite / Debakel für Postkommunisten
Jörg Fischer

Oberflächlich betrachtet ähnelte die Situation vor den polnischen Sejm-Wahlen der vor der Bundestagswahl: An der Regierung eine Linkskoalition, die einiges reformiert und wenig erreicht, dafür aber den Bürgern viel zugemutet hat - Skandale und fast 18 Prozent Arbeitslosigkeit inklusive. In der Opposition eine ernstzunehmende bürgerlich-liberale Partei, die laut Umfragen einen haushohen Wahlsieg einfahren wird. Doch es kam letzten Sonntag in Warschau - wie in Berlin - anders, als Meinungsforscher und Politkommentatoren gedacht hatten.

Wahlsieger wurde nicht die wirtschaftsliberale Bürgerplattform (PO), sondern die rechtsnational-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit knapp 27 Prozent. Die 2001 von rechten Ex-Solidarnosc-Aktivisten gegründete Partei konnte damit ihr 9,5-Prozent-Ergebnis der vorherigen Sejm-Wahl fast verdreifachen. Die vor der Wahl mit bis zu 40 Prozent gehandelte PO, deren Spitzenkandidat, der Krakauer Anwalt Jan Rokita, sich schon seit zwei Jahren als künftiger Regierungschef wähnte, kam nur auf 24,1 Prozent (2001: 12,7). Dennoch werden beide die künftige Regierung bilden - und mit 285 Sitzen haben sie zusammen eine satte Mehrheit im 460köpfigen Parlament. Im Senat, der mit Mehrheitswahlrecht gewählten Regionen-Kammer, haben PiS und PO sogar weit über 80 Prozent der Sitze.

Die PiS hat ihren Erfolg nicht nur den populären Zwillingsbrüdern Lech und Jaroslaw Kaczynski zu verdanken - der eine Bürgermeister von Warschau, der andere Sejm-Vize und PiS-Chef. Im Wahlkampf sprach die PiS alle Schichten des Volkes an: Den Arbeitern und Angestellten wurde der Kampf gegen die Kriminalität und soziale Sicherheit versprochen, Unternehmern mehr Freiheit und der Kampf gegen die Korruption.

Während Rokita und die PO - ähnlich wie die CDU - mit einer Einheitssteuer von 15 Prozent und anderen "neoliberalen" Reformen warben, hielt die PiS mit Steuererleichterungen für Familien und Steuerprogression für "Reiche" dagegen. Die PO versprach den "schlanken" Staat - die PiS einen starken Staat, der auch die "wilden" Privatisierungen unter den Postkommunisten unter die Lupe nehmen werde. Im JF-Interview (34/05) bekannte sich Lech Kaczynski zwar als Anhänger der freien Marktwirtschaft, fügte aber hinzu: "Wir sind gegen die liberale Utopie." Außenpolitisch unterscheiden sich PiS und PO kaum - verbal sind die polnisch-nationalbewußten PiS-Töne gen Berlin (aber auch gen Brüssel und Moskau) allerdings ungleich schärfer.

Doch nicht nur wegen inhaltlicher Differenzen dürfte die Regierungsbildung länger dauern. PiS-Spitzenkandidat Jaroslaw Kaczynski will nur dann Premier werden, wenn sein Bruder Lech nicht die Präsidentschaftswahl am 9. Oktober gewinnt. Derzeit sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Lech Kaczynski und PO-Kandidat Donald Tusk aus, nachdem der postkommunistische Ex-Premier und Ex-Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz seine Kandidatur wegen eines umstrittenen Aktienhandels zurückgezogen hat. Bei einem möglichen zweiten Wahlgang hofft der dezidierte Anti-Kommunist Kaczynski auf Stimmen aus dem rechtskatholisch-nationalen und dem linkspopulistischen Lager, Tusk auf Linksliberale und Postkommunisten.

Dem postkommunistischen Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) war schon das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde vorausgesagt worden, doch mit 11,3 Prozent wurde die nun abgewählte Regierungspartei noch vierte Kraft. Verglichen mit den 41 Prozent von 2001 ist dies dennoch ein Desaster.

Den diversen Abspaltungen und Neugründungen im SLD-Umfeld gelang - trotz wohlmeinender publizistischer Unterstützung - der Sprung in den Sejm nicht: Die linke Sozialdemokratie Polens (SDPL) von Ex-Sejm-Präsident Marek Borowski scheiterte mit 3,9 Prozent. Die linksliberale Demokratische Partei (PD), die prominente "bürgerliche" Postkommunisten und liberale Ex-Solidarnosc-Aktivisten vereinte (darunter Premier Marek Belka, Ex-Außenminister Bronislaw Geremek oder Alt-Premier Tadeusz Mazowiecki) kam nicht mal auf die zur Wahlkampfkostenerstattung nötigen 3,0 Prozent. Die altkommunistische Polnische Partei der Arbeit (PPP) erreichte weniger als ein Prozent.

Als drittstärkste Kraft im Sejm konnte sich mit 11,4 Prozent (2001: 10,2) die linksnationale Samoobrona (Selbstverteidigung) behaupten. Die populistische Bewegung des radikalen Bauernführers Andrzej Lepper (JF 25/04) entwickelt sich zunehmend zu einem Sammelbecken der sozialen Verlierer in Stadt und Land, wovon es angesichts von knapp 18 Prozent Arbeitslosen einige Millionen in Polen gibt. Die meisten davon sind allerdings wahrscheinlich nicht zur Wahl gegangen - die Beteiligung lag mit 41 Prozent noch unter den 46 Prozent von 2001. Auch die nationalkatholische Rechtsaußenpartei Liga der Polnischen Familien (LPR) ist mit acht Prozent wieder im Sejm, ebenso wie die Volkspartei (PSL), die in den neunziger Jahren mit den Postkommunisten die Regierung bildete. Die einstige Bauernpartei ist mit knapp sieben Prozent wieder im Sejm vertreten. Sogar zwei deutsche Oberschlesier ziehen - dank Sonderregelung im Wahlrecht - wieder ins polnische Parlament ein.

Lesen Sie auch das JF-Inteview 34/05 vom 19.08.05:
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Foto: Wahlsieger Jaroslaw Kaczynski: Gegen Kriminalität und Korruption


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