© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/05 30. September 2005

Wiedervereinigung von unten
Fünfzehn Jahre deutsche Einheit: Vielleicht ist der Osten die Zukunft des Westens
Thorsten Hinz

Anläßlich des 15. Jahrestages der deutschen Einheit am 3. Oktober ist statt Freudebekundungen aus der Gebetsmühle ausnahmsweise eine Schadensbesichtigung angebracht. Zu den Begriffen, die seit 1990 am meisten für die Vernebelung der Wirklichkeit gesorgt haben, gehört die "Mauer in den Köpfen".

Der Begriff reduziert die objektiven Unterschiede zwischen Ost und West bezüglich Herkunft, Voraussetzungen, Interessen und die Konflikte, die sich daraus ergeben, auf subjektive Fehlleistungen. Das hat zur Entpolitisierung des Landes beigetragen. Anstelle des Aufbruchs, der 1990 beschworen wurde, gibt es heute eine flächendeckende Lähmung, und die Ex-DDR, anstatt Experimentierfeld für Neues zu sein, präsentiert sich trotz einiger Leuchttürme als wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Brache.

Nur ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern, das 1990 mit 28.000 Erstkläßlern über die jüngste Bevölkerung Deutschlands verfügte, ist heute ein Altersheim. Ganze 12.000 Kinder wurden dieses Jahr eingeschult. Der Osten als Avantgarde? Seine Wählerschaft übt eine mächtige, aber rein negative, apolitische Sperrminorität aus. Diese speist sich weniger aus Ostalgie und postsozialistischem Phantomschmerz als aus Machtlosigkeit und Ressentiment.

Die Unterschiede zwischen DDR und BRD waren nicht bloß politischer, sondern auch kultureller und lebensweltlicher Natur. Was 1990 dem Grundgesetz beitrat, war a) ein kollabierter Staat, und b) eine in dessen Würgegriff nivellierte Gesellschaft. Das Großbürgertum war enteignet und vertrieben, das Bildungsbürgertum fast völlig verdrängt worden. Ein Mittelstand war bloß rudimentär vorhanden, die Landwirtschaft kollektiviert und unter planwirtschaftliche Aufsicht gestellt. Dieser entstrukturierten, egalisierten Gesellschaft hatte der SED-Staat seine eigene Matrix aufgedrückt: Das Wappen der DDR zeigte einen Hammer für die Arbeiterklasse, einen Ährenkranz für die Genossenschaftsbauern und einen Zirkel für die werktätige Intelligenz.

Einzig letztere wäre 1990 theoretisch in der Lage gewesen, die Interessen und das Befinden des Ostens zu formulieren. Nur war sie in der DDR einem ungleich stärkeren Konformitätszwang ausgesetzt gewesen als alle anderen Berufsgruppen und entsprechend gehemmt und kompromittiert.

Natürlich gab es Ausnahmen: Künstler, Überbleibsel des Bildungsbürgertums oder bohemehafte Außenseiter, die in abbruchreifen, dafür büchervollen Altbauwohnungen lebten und versuchten, eine geistige Existenz zu führen. Politisch anschlußfähig war das kaum.

Das beste, was die DDR in dieser Hinsicht hervorbrachte, waren die Bürgerrechtler, die aber eher einem strengen Moralismus folgten als einer durchdachten politischen Programmatik. Diese wäre auch irreal gewesen. Denn eine Verbindung zwischen Intellektuellen und Arbeitern, zwischen sozialen Interessen und politischen Forderungen, die in Polen zu einer breiten emanzipatorischen Bewegung geführt hatte, wußte die SED zu verhindern. Es gelang ihr - auch dank Westkrediten -, einen gewissen materiellen Standard zu sichern.

Zweitens wies die Verfassung der DDR die Arbeiterklasse als die herrschende aus. Politisch war das Unsinn, sozial und kulturell jedoch eine Realität. Der Soziologe Wolfgang Engler hat die DDR eine "arbeiterliche Gesellschaft" genannt, das heißt, die Anschauungen, Konventionen, Gewohnheiten und Sitten der Arbeiter legten - staatlich gefördert - die gesellschaftlichen Normen fest. Auch die SED-Führung stammte ja mehrheitlich aus einfachen Verhältnissen. Den Vorschein vom Paradies bildete für die Regierenden und die Mehrheit der Regierten der heimlich kursierende Quelle-Katalog. Insofern gab es eine gegenseitige Loyalität und trifft Jörg Schönbohms These von der Proletarisierung der DDR zu.

Statt der fälligen Ausdifferenzierung, Pluralisierung und Transformation der vom staatlichen Druck befreiten gesellschaftlichen und sozialen Strukturen kam es nach 1989 zu ihrem Zusammenbruch. Die Arbeiter gerieten massenhaft in die Arbeitslosigkeit, die bäuerlichen Genossenschaften gingen bankrott, die Intelligenz, als vermeintlicher Träger und Nutznießer des Systems für dessen Scheitern in Haftung genommen, wurde abgewickelt, oft unter verletzenden Umständen. Zeit und Gelegenheit für eine Selbstverständigung gab es nicht.

Und wohin hätte die zusammenbrechende DDR-Gesellschaft sich denn transformieren sollen? Sicher, auf die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) mit dem Warenhaus als zentralem Topos und den Trivialmythen der Werbung konnte man sich verständigen. Doch sie verfügt über eine Kehrseite, die in einer rigiden Leistungsethik und in der Wertbestimmung des Individuums durch die ausgeübte Arbeit besteht. Wer arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht ist, steht am Rande.

Naiv war daher die Erwartung, die DDR-Bürger würden sich umstandslos über die westdeutsche Parteienlandschaft verteilen. Für die FDP fehlt der Mittelstand, für die CDU das Bürgertum und das konfessionelle, für die SPD das Gewerkschaftsmilieu. Die Mitteldeutschen bildeten - und bilden - mehrheitlich eine vagabundierende Wählermasse, die den jeweils überzeugendsten Vaterfiguren folgte: auf der Bundesebene Helmut Kohl, in Sachsen Kurt Biedenkopf, in Brandenburg Manfred Stolpe. Einzig die PDS bot sich als autochthoner Nukleus an, der zuerst die hartgesottenen SED-Anhänger, dann die verbitterten Intellektuellen anzog und sich inzwischen als soziokulturelle Bewegung der ehemaligen DDR etabliert hat.

Aber auch die BRD hatte zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung ihren Zenit überschritten. Die Verbindung aus Konsum und Leistungsethik als praktizierter Staatsidee hatte ihren Preis, der mit der Alimentierung von Millionen Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Vorruheständlern gezahlt wurde. Dieser in allen Fugen krachende Sozialstaat mußte 1990 zusätzlich die Integration bzw. Ruhigstellung der DDR-Bevölkerung übernehmen. In der Ex-DDR und Berlin lebt die Mehrheit inzwischen von Transfersleistungen.

Edmund Stoibers Zorn darüber, daß "Frustrierte" im Osten darüber bestimmten, wer in Deutschland Kanzler wird, besitzt also einen rationalen Kern. Denn es ist absolut problematisch, wenn diejenigen, die Zuwendungen empfangen, über diejenigen den Ausschlag geben, die die Zuwendungen aufzubringen haben.

Das ist jedoch kein ausschließliches Ost-West-Problem, vielleicht ist der Osten sogar die Zukunft des Westens. Auch dort nimmt der Anteil der Transferempfänger gegenüber den Erbringern dramatisch zu und brechen soziale und gesellschaftliche Strukturen zusammen. Falls das von oben wiedervereinigte Deutschland nicht endlich eine Idee von sich selbst entwickelt, die über Konsumismus und Ökonomismus hinausgeht, steht ihm eine Wiedervereinigung von unten bevor, und zwar durch eine aggressive egalitäre Bewegung, in der sich die Desintegrierten aus West und Ost versammeln. Sie würde sozialstaatlich und menschenrechtlich argumentieren und dabei das persönlich Nächstliegende im Blick haben. Das wäre nicht nur die Zerstörung des Politischen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen