© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/05 07. Oktober 2005

Pankraz,
M. Vargas Llosa und die Bilder aus New Orleans

Im Internet kursiert zur Zeit ein umfangreicher Aufsatz des "berühmten peruanischen Publizisten Vargas Llosa", der die katastrophalen Bilder aus dem vom Hurrikan "Katrina" getroffenen New Orleans im US-Staat Louisiana kommentiert. Die auf den Bildern zu besichtigende krasse Armut der Bevölkerung, schreibt Vargas Llosa, sei halb so schlimm, denn es handle sich um ein "soziales Durchgangsstadium". Statistiken belegten, daß Armut in den USA für jeden einzelnen durchschnittlich nur acht Jahre dauere, danach löse sie sich in Wohlstand und Wohlgefallen auf.

Pankraz war richtig erschrocken. "Jetzt ist er endgültig durchgedreht", dachte er, "jetzt hat sein an sich schon sonniges Gemüt einen Sonnenstich abbekommen." Genaues Hinsehen ergab dann glücklicherweise, daß es sich bei dem Verfasser des Aufsatzes nicht um den begabten und ungemein liebenswerten Schriftsteller Mario Vargas Llosa handelte, sondern um einen Verwandten von ihm, Alvaro Vargas Llosa, einen mit eigenem US-Institut ausgestatteten "Wohlstandsforscher", der die Fachwelt schon seit längerem mit pittoresken Theorien unterhält.

Mit Statistiken läßt sich bekanntlich alles beweisen. Aber die Mitteilungen von Vargas Llosa stehen so quer zu allen nur möglichen Beobachtungen, daß dagegen auch die raffinierteste Statistik nicht ankommt. Für Millionen und Abermillionen ist Armut heute kein Durchgangsstadium auf dem Weg zu Wohlstand und Eigenheim, sondern Dauerzustand und unabwendbares Schicksal, Lebens-"Ziel" und Lebensendpunkt. Das trifft auch und gerade auf die USA zu, nur wird das dort (wie übrigens sogar der Aufsatz von Vargas Llosa andeutet) dadurch kaschiert, daß sich Armutsschranken weitgehend mit Rassenschranken decken. Dauerhaft arm ist drüben, wer schwarz oder Indio ist.

Zwar gibt es auch einen"white trash", eine weiße Unterschicht, doch bei der sind die Chancen für eventuellen Aufstieg tatsächlich größer als bei den Schwarzen. Die Armutsmilieus sind unübersehbar ethnisch eingefärbt. Und über ihnen liegt, für jeden Besucher wahrnehmbar, wie eine dicke Staubschicht der Mehltau der Hoffnungslosigkeit und Endgültigkeit. Trostlos vergammelte Wohnviertel, ehemals stolze, nun total heruntergekommene Innenstädte, Dritter-Welt-Geruch in allen Ecken und Winkeln - dergleichen kennt man aus Brasilien oder Ghana als Folklore. Warum sollte es in den USA anders sein?

Soziologen sprechen schon seit langem von der "Brasilianisierung der USA". Die differierenden Ethnien bilden Ghettos, Armen-Ghettos, aber auch Reichen-Ghettos, die sich gegeneinander abschotten und zwischen denen bestenfalls soziale Gleichgültigkeit herrscht, oft aber versteckte oder offene Feindseligkeit. Die sozialen Karrieren bzw. Nichtkarrieren der jeweiligen Ghetto-Insassen sind weitgehend vorbestimmt, je nach kultureller Prägung und vorhandener respektive nicht vorhandener Ausbildung. Die einst populäre Mär, daß jeder vom Zeitungsjungen zum Millionär aufsteigen könne, taugt nicht einmal mehr als Klischee.

Verglichen mit diesen Zuständen sind unsere deutschen Verhältnisse noch ziemlich ansehnlich. Hierzulande wird die Armut inzwischen zwar auch nicht mehr als Durchgangsstadium zu Millionärshöhen oder wenigstens Eigenheimhöhen empfunden, sondern eher als sozialer Endpunkt, aber man gibt sich - siehe den Bestseller des Grafen Schönburg - immerhin Mühe, "stilvoll zu verarmen". In den Armutsquartieren Amerikas würde ein solches Unternehmen gar nicht verstanden, wahrscheinlich als bodenloser Zynismus verdammt. Wer nicht einmal eine Klosettbrille sein Eigen nennt, kann sich um Stil nicht kümmern.

Die Hurrikanbilder aus New Orleans halten mancherlei Lehren für mitteleuropäische Fernsehzuschauer bereit, Lehren, die auch ein Vargas Llosa mit seinen Statistiken nicht aus der Welt schaffen kann. Ganz oben stünde die Einsicht, daß Lebensstil und Lebensniveau von je eigenen, in langen Zeiträumen erworbenen Traditionen und Tugenden abhängen, welche erschreckend schnell dahinschwinden können, wenn man sich hemmungsloser Zuwanderung und läppischster Multikulti-Philosophie öffnet.

Armut ist in vieler Hinsicht ein relativer Begriff, Armut und Armut sind nicht dasselbe. In guten, organisch gewachsenen und sorgsam auf Zusammenhalt bedachten Gemeinschaften wird man immer Ressourcen bereitstellen, um im eigenen Haus grelle, laut zum Himmel schreiende Armut, wie sie in den New-Orleans-Bildern zutage trat, zu vermeiden und so den autochthonen Stil zu wahren. Es geht nicht darum, stilvoll zu verarmen, sondern greller, hausgemachter Armut keine Chance einzuräumen.

Ganz und gar stillos ist es, zu Hause grelle Armut zuzulassen, die Armutsfrage sogar bewußt zu ignorieren und sie à la Vargas Llosa als zu vernachlässigendes "Durchgangsphänomen" hinzustellen - und im gleichen Takt dieses höchst eigentümliche, unter besonderen historischen Bedingungen erwachsene Phänomen als Weltmodell anzupreisen, welches überall, notfalls mit Gewalt, installiert werden müsse. Das heißt ja nun wirklich, den Nichtgärtner zum Bock zu machen.

Oder will man vielleicht einen Beitrag zur Förderung guter Literatur leisten? Mario Vargas Llosa, der Schriftsteller und Alvaro-Vetter, äußerte kürzlich (in der Süddeutschen Zeitung) in einem etwas riskanten Interview: "Reiche Gesellschaften haben keine große Literatur, weil sie keine brauchen. Für die armen gilt: Man weiß nicht, in welcher Welt man lebt. Deshalb erfindet man Welten, in denen sich leichter leben läßt."

"Durchgangsstadium" also als Herdfeuer kultureller Blüte. Das ist originell und hat ganz eigenen Stil. Fragt sich nur, ob die Armen selbst mit einem solchen Stil einverstanden wären. Die Katastrophenbilder aus New Orleans, die Klagen der Opfer deuten eher auf schwere Zeiten für gute Literatur.


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