© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

"Man kann sie nicht bremsen"
Interview: Die Journalistin Ana Bohórquez Rodríguez über die Zustände in der von Flüchtlingen bedrängten spanischen Exklave Melilla
Curd-Torsten Weick

Frau Bohórquez Rodríguez, bis vor einigen Wochen waren die spanischen Städte Ceuta und Melilla vielen Europäern unbekannt. Seit fast täglich Gruppen von mehreren hundert Schwarzafrikanern versuchen, die EU-Außengrenze in Nordafrika zu überwinden, um nach Europa zu gelangen, sind Melilla und Ceuta ein Topthema in den Nachrichten. Wie erleben Sie die Situation?

Bohórquez Rodríguez: Wahrscheinlich weniger dramatisch. Vor allem auch für die Einwohner Melillas weniger dramatisch, als Sie vielleicht denken. Dennoch sind Veränderungen in der Stadt spürbar. Vor allem, da die Infrastruktur nicht für Anstürme von 300 bis 450 Flüchtlingen auf einmal gedacht sind. Sowohl Krankenhäuser, Krankendienste als auch die Flüchtlingslager waren auf solche Entwicklungen nicht vorbereitet.

Ist das alltägliche Leben in der Stadt beeinträchtigt?

Bohórquez Rodríguez: Das Bild auf den Straßen hat sich geändert. Während marokkanische oder algerische Flüchtlinge eher in der Bevölkerung untergehen, sieht man nun viel mehr Schwarzafrikaner durch die Stadt laufen. Doch das alltägliche Leben wird dadurch nicht sehr beeinträchtigt.

"Die Einwohner Melillas waren eher hilfsbereit"

Wie reagieren die Einwohner Melillas auf den Ansturm aus Schwarzafrika? Gibt es negative Reaktionen?

Bohórquez Rodríguez: Nein, ganz im Gegenteil. Was mich gewundert und sehr positiv gestimmt hat, ist die Reaktion der Einwohner. Sie waren eher hilfsbereit und haben unter anderem jene Schwarzafrikaner, die auf der Suche nach der Polizeistation waren, mit ihren eigenen Autos dorthin gefahren - eine eher positive Reaktion, vor allem im Kontrast zu marokkanischen und algerischen Flüchtlingen, die bei den Melillenses weit weniger wohlgelitten sind. Gegenüber den Schwarzafrikanern habe ich nicht so eine negative Stimmung gespürt.

Marokko hat sich nun bereit erklärt, illegale Einwanderer, die über Ceuta oder Melilla nach Europa wollen, wieder aufzunehmen. Kann das die Lage entschärfen?

Bohórquez Rodríguez: Ich zweifle daran, inwieweit das aufgrund der Haltung der Marokkaner und der Gesetzeslage in Spanien wirklich so umsetzbar ist. Dennoch könnte es vielleicht eine kurzfristige Maßnahme sein, um Schwarzafrikaner, die nun um jeden Preis versuchen, spanischen Boden zu erreichen, erst einmal von ihrem Vorhaben abzuhalten. Aus menschlichen Gründen kann ich dem Vorhaben allerdings wenig abgewinnen. Denn ich glaube nicht, daß die Flüchtlinge in Marokko eine ähnliche Behandlung erführen wie in Europa. Im Gegenteil.

Was meinen Sie damit?

Bohórquez Rodríguez: Die Schwarzafrikaner vegetieren in Marokko vor sich hin und wenn es dann darum geht, die Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückzuschicken, hat Marokko ebenso mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Land hat selber Probleme genug. Kurzfristig kann die Wiederaufnahme der Schwarzafrikaner durch Marokko eine Lösung sein, um den Ansturm zumindest zeitweilig zu stoppen. Mehr aber auch nicht.

"Marokko hat kein Interesse an der Stabilität Melillas"

1415 wurde die alte Römer-Stadt Ceuta von König Johann I. für Portugal von den Arabern befreit. Melilla gehört seit 1497 zu Spanien. Andererseits beansprucht Marokko seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956 nicht nur Melilla und Ceuta, sondern sogar einige kleine spanische Inseln vor der afrikanischen Küste. Ist die marokkanische Regierung deshalb möglicherweise an einer Destabilisierung der Lage in den beiden Städten interessiert?

Bohórquez Rodríguez: Dieser Umstand wurde sowohl offen als auch in kleinen Kreisen angesprochen und ist als Grund für diesen plötzlichen Ansturm genannt worden. Ich meine, Marokko hat kein großes Interesse an Stabilität in Melilla und Ceuta. Denn gerade die Instabilität gibt Marokko den Grund, um verstärkt und verschärft auf die Rückgabe der Städte zu insistieren. Andererseits deuten die jetzigen eher sanften Beziehungen zwischen der sozialistischen Regierung in Spanien und der marokkanischen Regierung nicht darauf hin, daß Marokko nun ein besonderes Interesse verfolgt.

Hat sich mit der Übernahme der Macht durch die Sozialisten in Madrid etwas im Verhältnis zu Marokko verändert?

Bohórquez Rodríguez: Seitdem die Sozialisten in Madrid regieren, hat man fordernde Stimmen aus Marokko nicht mehr so laut gehört. Gut möglich, daß es eine Strategie Marokkos ist, um später verschärft darauf zurückzukommen. Dies ist aber nur ein Gedanke, den man nicht begründen kann.

Doch warum gab es den Ansturm der Flüchtlinge just zu diesem Zeitpunkt?

Bohórquez Rodríguez: Letztlich kann ich auch nicht sagen, warum diese Anstürme der Schwarzafrikaner gerade zu diesem Zeitpunkt begannen. Wahrscheinlich lag es dann doch an der avisierten Erhöhung der Grenzanlagen, die die Schwarzafrikaner dazu animierte, diesen letzten Versuch zu starten.

"Eine Sache ist die Utopie, eine andere die Realität"

Asyl-Hilfsorganisationen fordern, die EU sollte ihre Grenzen für Einwanderer öffnen. Dann würde es solche Szenen wie in Ceuta oder Melilla nicht mehr geben. Was halten Sie davon?

Bohórquez Rodríguez: Die eine Sache ist die Utopie, und die andere Sache ist die Realität. Wir kämpfen hier jetzt mit der Realität. Spanien hat mit Ceuta und Melilla seine letzten Grenzen in Afrika, und Spanien erfüllt seine europäische Pflicht, die Grenzen respektive den Zustrom von Flüchtlingen zu kontrollieren. Spanien kann aber nicht all die Flüchtlinge, die es nun mal nach Europa zieht, aufnehmen.

Bleibt die Last dann letztendlich an Spanien hängen?

Bohórquez Rodríguez: Ich finde es vor allem ein bißchen widersprüchlich, zu sagen, "wir" müssen alle Flüchtlinge aufnehmen, aber "wir" nehmen die nicht gerne auf. Es ist sehr leicht zu sagen, ihr Spanier kommt mit den Problemen schon klar - aber bitte schickt uns die Flüchtlinge nicht weiter nach Frankreich, Italien, England oder Deutschland. Da muß schon eine allgemeine EU-weite Entscheidung her - falls wir es denn überhaupt wollen. Am schlimmsten von diesem Drama betroffen sind jedoch die Menschen, die Schwarzafrikaner selber.

Die spanische Caritas hat die spanische und andere EU-Regierungen aufgefordert, mehr Geld und Anstrengung in die Entwicklungsarbeit zu investieren, statt die Mittel für die Befestigung und Bewachung von EU-Grenzen zu verwenden.

Bohórquez Rodríguez: Es geht vor allem um Vereinfachungen auf wirtschaftlicher Seite. Es geht darum, daß der Markt zwischen Europa und Afrika ein freier Markt wird und nicht ein so unterstützter und abgeschotteter Markt wie in der Europäischen Union, wo alle Produkte derart subventioniert werden, daß die afrikanischen Produkte keinerlei Chance haben, frei verkauft werden zu können.

"Es ist leicht zu sagen, ihr Spanier kommt schon klar"

Der deutsche Innenminister Otto Schily (SPD) und Politiker der britischen Labour-Regierung haben schon vor einiger Zeit angeregt, in Nordafrika Auffanglager für illegale Einwanderer zu errichten.

Bohórquez Rodríguez: Zu meiner Überraschung wurde dieser Vorschlag jetzt sogar von der spanischen Regierung vorgestellt. Als eigene Initiative. Ich war schon sehr darüber amüsiert, als bestimmte sozialistische Politiker Schilys Vorschläge als ihre neue Idee und neue Lösung verkauften. Doch wie viele Flüchtlings- oder Aufnahmelager soll es dann in Nordmarokko geben?

Ist das überhaupt ein realistischer Vorschlag?

Bohórquez Rodríguez: Ein Problem kommt hinzu: Der illegale Ansturm marokkanischer Kinder und Jugendlicher nach Melilla und Ceuta. Sie werden Tag für Tag im Schatten der 30.000 normalen Grenzübertritte bei uns eingeschleust. Marokko fühlt sich für sie nicht zuständig, und so mehrt sich deren Anzahl. In diesem Kontext ist dann von der spanischen Regierung vorgeschlagen worden, solche Lager in Marokko zu errichten. Aber ich finde, das ist auch nicht die Lösung. Denn letztendlich haben dann die Marokkaner das Problem, statt die Europäer.

"Dann haben die Marokkaner das Problem"

Doch wie ist das Problem der zunehmenden Migration aus Schwarzafrika dann zu lösen?

Bohórquez Rodríguez: Das Problem kann man überhaupt nur langfristig lösen. Und auch nur dann, wenn die Politik gegenüber den schwarzafrikanischen Ländern wirklich allgemein geändert wird. Lager in Europa, in Afrika, in Marokko oder in Spanien? Ich glaube nicht, daß diese Lösung von Herrn Schily und den Sozialisten in Spanien wirklich langfristig zu einer Lösung des Problems führen wird.

Vielleicht hilft zumindest kurzfristig doch die Erhöhung der Sperrzäune.

Bohórquez Rodríguez: Auch nicht. Dies haben wir gerade gesehen. Bei dem vorletzten großen Ansturm haben 650 Menschen versucht, die Zäune zu überwinden. Davon haben es 350 geschafft. Und zwar einzig und allein deshalb, weil das Gewicht von 650 Menschen die Zäune zum Einsturz brachte. Man kann sie also gar nicht bremsen.

 

Ana Bohórquez Rodríguez ist Direktorin der in der spanischen Exklave Melilla erscheinenden Tageszeitung "Melilla Hoy". Das Blatt wurde im April 1985 gegründet und ist lokaler Marktführer in der 70.000 Einwohner zählenden Stadt. "Melilla Hoy" ist politisch unabhängig und wird als Familienunternehmen geführt.

 

Foto: Endstation spanische Exklave: "Krankenhäuser und Flüchtlingslager in Melilla waren auf solch einen Ansturm nicht vorbereitet"

 

Stichwort: Migration aus Afrika

Der Ansturm schwarzafrikanischer Flüchtlinge auf die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der Nordküste Marokkos beherrscht derzeit die Schlagzeilen. Vergessen wird dabei, daß von Marokko selbst ein starker Auswanderungsdruck ausgeht.

Der Maghrebstaat, der von 1912 bis 1956 unter französischem Protektorat stand, hat 30 Millionen Einwohner, dazu kommen fünf bis sieben Millionen im Ausland, vor allem in Spanien lebende Marokkaner. Für das Königreich bedeuten die Auswanderer eine wichtige Devisenquelle. Jährlich überweisen sie mehr als zwei Milliarden Euro und bringen dadurch mehr ein als der Tourismus. Jedes Jahr kehren bis zu 200.000 Marokkaner ihrem Heimatland den Rücken, der Großteil auf illegalem Weg in Richtung Spanien. Das Geschäft der Schlepperbanden blüht, denn die ökonomischen Perspektiven sind gerade für die große Anzahl der marokkanischen Jugendlichen düster.

Im Brennpunkt stehen auch hier die beiden Exklaven, die seit dem Mittelalter zu Spanien gehören. In Melilla überqueren täglich bis zu 30.000 Maghrebiner die Grenze. Zwischen die Arbeiter und Händler mischen sich immer wieder viele Minderjährige ohne Papiere und ohne Eltern - ein Problem, mit dem Marokko die Verwaltung von Melilla allein läßt.

 

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