© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Pankraz,
J. Klinsmann und der Ruck, den wir brauchen

Ruck, Ruck, Ruckzuck, Hauruck ... Die martialischen Töne nehmen kein Ende, im Gegenteil, nach der mißglückten Bundestagswahl ist die einst vom vorvorletzten Bundespräsidenten Roman Herzog etablierte und zwischenzeitlich etwas abgeflachte Ruck-Rhetorik voll in die politische Arena zurückgekehrt. Ein Ruck müsse endlich durchs Land gehen, heißt es allenthalben wieder, jeder Teilnehmer am sozialen Leben, jeder Kassenpatient, müsse sich einen Ruck geben, der notwendige Ruck sei das A und O jeglicher Koalitionsbildnerei.

Der Fall ist merkwürdig. Denn der Ruck nebst Ruckzuck und Hauruck paßt überhaupt nicht in die moderne Situation, wo man Wagen, die im Straßengraben liegen, mit benzingetriebenen Maschinen wieder herauszieht und fahrfähig macht. Der Ruck ist ein ganz und gar archaischer, aus alten Sklaven- und Pferdezeiten stammender Geselle, als einzig und allein die rohe Körperkraft lebendiger Massen zur Herbeiführung gewisser Bewegungsabläufe zur Verfügung stand.

Zum Ruck gehörte die Sklaven- bzw. Pferdepeitsche, das Befehlsgebrüll der Antreiber, das verzweifelte In-die-Hände-Spucken der Zieher. Ihr Arbeitsrhythmus war diskontinuierlich, unschön und wenig effektiv. Nach jedem einzelnen Ruck mußten sie erstmal verschnaufen und neue Kräfte sammeln, um zum nächsten Ruck übergehen zu können. Die größten Gelehrten der Weltgeschichte, von Ktesiphon bis Galilei, haben jahrtausendelang darüber nachgedacht, wie sich die primitive Ruck-Technik überwinden und durch effektivere Formen der Kraftentfaltung ersetzen ließe.

Freilich hat der Ruck auch noch eine andere, gleich sam innere Seite. Zu den psychologischen Grundeinsichten gehört, daß der Mensch vor jeder eigenen Entscheidung von einiger Reichweite spontan zögert, daß er sich stets einen Ruck geben muß, um sich zur Tat aufzuraffen. "Entscheidung" heißt ja auf griechisch, bei Aristoteles, "Krisis", und das hat durchaus mit unserem Wort "Krise" zu tun. Eine Entscheidung läßt sich - auch wenn alles noch innen bleibt - sehr viel weniger leicht revozieren als ein bloßer Routine-Entschluß, sie ist gleichsam der zur Krise vorgetriebene Entschluß, hinter den das Individuum nur unter Skrupeln und mit Beschämung zurückgeht.

Vor einem "schnellen Entschluß" warnen alle Lebenspraktiker und Moralisten. "Wer schnell entschlossen ist, der strauchelt leicht", singt schon der Chor im "Ödipus" des Sophokles. Man soll sich die Sache also genau überlegen. Ist aber die Entscheidung gefallen, hat man sich den Ruck gegeben, dann muß es geradezu als schimpflich gelten, bei nächster Gelegenheit den Schwanz wieder einzuziehen und "April, April" zu rufen.

Vielleicht hat der Schöpfer der aktuellen Ruck-Rhetorik, Roman Herzog, mehr an diese innere Seite des Rucks gedacht, als er seinerzeit im Berliner Luxushotel Adlon vor wichtigen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft seine historische Rede hielt. Nicht irgendwelche menschlichen Zugmaschinen sollten zum Ruck angepeitscht werden, sondern Führungskräfte mit Arkanwissen und Übersicht wurden dringlich aufgefordert, sich endlich einen Ruck zu geben und das längst für notwendig Erkannte ernsthaft zu thematisieren und in die Wege zu leiten.

Ob Herzog es nun wirklich so gemeint hat oder nicht - die "innere" Deutung seiner Rede gefällt Pankraz jedenfalls viel besser. Der Ruck, der hierzulande ansteht, betrifft nicht so sehr die Massen als vielmehr die Führungskräfte. An ihnen liegt es, daß die "Globalisierungsfolgen" nicht in antiquiertes Peitschengeknall und in moderne Sklaverei ausarten, die sozialen Bewegungsabläufe sich nicht in diskontinuierliches Ruckeln und lähmendes Zwangspausemachen aufsplittern.

Wenn es denn unbe dingt ein Ruck sein soll, so kann es nur ein Ruck von oben sein: glaubhaft bezeugte Entscheidungsfreude, gepaart mit Einfallsreichtum und genauem Blick für das jeweils Mögliche. Mag sein, daß dann auch noch ein Ruck von unten, ein "Massen-Ruck", nötig wird. Aber um den herbeizuführen, sollten die Eliten jeglichen zähnefletschenden Pyramidenbauer-Ton vermeiden. Vielmehr käme es darauf an, auch diesen "Massen-Ruck" gleichsam zu verinnerlichen, ihn zu verfeinern, ihn mehr als sportliche Herausforderung denn als triste Notwendigkeit aufzuziehen.

Insofern befindet sich die kürzlich von den großen Medienhäusern gestartete "Du bist Deutschland"-Kampagne trotz ihrer vielen falschen und peinlichen Züge durchaus auf der richtigen Spur. Der große Ruck, den diese Kampagne beschwört, wird hier immerhin gutgelaunt als bloßes Sportereignis und als nichts anderes apostrophiert. Nicht die ägyptischen Pyramiden, sondern die nächstes Jahr in Deutschland abrollenden Wettkämpfe der Fußballweltmeisterschaft sind Vergleichspunkt.

In gewisser Weise ist Fußball die Aufhebung jeglicher Ruck-Philosophie à la Roman Herzog. Ein gutes Spiel ist immer ein höchst flüssiges, elegant fließendes Spiel; eventuell vorkommende Hauruck-Aktionen fallen aus dem Rahmen und werden vom Schiedsrichter geahndet. Auch muß sich der wahrhaft inspirierte Spieler keinen inneren Ruck geben, um zu schießen und zu treffen, er ist von Anfang an integraler Teil des Geschehens und fügt sich organisch in die vorgegebene, strikt zielorientierte Handlung ein. Jede Augenblicksentscheidung erwächst spontan aus optimal einsehbaren Situationen, und im Glück des Sieges vereinigen sich Freiheit und Notwendigkeit.

Allerdings, falls die Klinsmann-Truppe nächstes Jahr nicht siegreich abschneidet und nicht wenigstens den Vizemeister holt, dürfte der Katzenjammer groß sein, und viele hämische Parallelen würden gezogen werden. Jede Entscheidung hat eben ihre Risiken. Um den Ruck kommt man letzten Endes doch nicht herum.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen