© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Zug im Visier
Drama in Ostbrandenburg
Waltraud Matthaei, Zusmarshausen

Im Januar 1945 lebten wir in Drossen im Kreis Weststernberg im östlichen Teil der Mark Brandenburg. Die Menschen waren sehr gedrückt und ratlos, denn die sowjetischen Truppen rückten beängstigend auf unsere Stadt zu. Am 30. Januar 1945 erreichte ein Verband der Roten Armee den Truppenübungsplatz in Wandern (etwa zwanzig Kilometer von Drossen entfernt). Auch akustisch war der Vormarsch nicht mehr zu überhören. Kanonendonner, unheimliche, fremde Geräusche durchdrangen oft die gewohnte Stille und lösten Angst und Schrecken aus.

Am 31. Januar 1945 hatten wir die Gelegenheit, mit einem Evakuierungszug in Richtung Westen doch noch der nahenden Bedrohung zu entkommen. Es war zu der Zeit kalt und es lag viel Schnee. Wir luden unsere Koffer, die in aller Eile gepackt wurden, auf zwei Schlitten und fuhren zum Bahnhof. Hier wurde unsere Geduld auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte endlos lange, bis wir in den Zug einsteigen konnten. Unsere gesamte Familie fand in einem Großabteil Platz, aber wegen des großen Andrangs saßen wir sehr zerstreut. Der Zug war total überfüllt, Gepäck aller Art blockierte die Gänge. Als sich der Zug in Bewegung setzte, blickte ich noch einmal auf den Bahnhof zurück. Viele Schlitten standen verlassen umher. Werden wir noch einmal zurückkehren? Schnell verdrängte diese Frage der Gedanke: "Wir haben es geschafft".

Wir hatten uns erst wenige Kilometer aus Drossen entfernt, als es einen fürchterlichen Knall gab, und der Zug abrupt stehenblieb. Ein Blick aus dem Fenster erklärte alles. Auf der Chaussee Reppen-Drossen standen drei sowjetische Panzer. Sie hatten ihre Geschütze ausgefahren und schossen auf den Zug. Unter den Reisenden brach Panik aus und alle versuchten die Türen zu erreichen. Es entstand ein fürchterliches Gedränge, Kinder, alle strebten nach draußen. Manche versuchten aus den Fenstern zu springen, es gelang auch einigen, andere wurden von den Kugeln tödlich getroffen. Um den schützenden Wald zu erreichen, mußten wir ein schneeverwehtes, freies Feld überwinden. Wir wateten durch das Feld, der Schnee reichte uns manchmal bis zu den Knien, rund um uns schlugen die Geschosse ein. Kinder schrien weinend nach ihren Müttern. Immer wieder blieben wir im Schnee stecken, es war ein mühsames Durchqueren. Wir hatten den Eindruck einfach nicht vorwärtszukommen. Endlich hatte ich mit meinem zwölfjährigen Bruder (ich war 15 Jahre alt) den Waldrand erreicht. Wir legten uns erst einmal erschöpft in Deckung, bis wir weiter waldeinwärts in Sicherheit gingen.

Nach und nach trafen auch die anderen Angehörigen ein. Leider mußten wir feststellen, daß meine siebenjährige kleine Schwester fehlte. Wir fragten, ob sie jemand gesehen habe, aber leider vergebens. Sie blieb verschwunden. Wir waren alle geschockt und sehr beunruhigt. Vereinzelt erreichten noch Geschosse den Wald, es wurden auch Menschen verletzt. Zum Glück war aber ein Arzt dabei, der die Verletzten versorgen konnte. Als es zu dunkeln begann, machten wir uns auf dem gefrorenem Schnee aus Zweigen ein Nachtlager. Zum Schlafen sind wir in dieser Nacht kaum gekommen, zu tief erfüllte uns das Erlebte.

Als der Morgen durch den Wald dämmerte, beschlossen alle Reisenden gemeinsam, den Wald zu verlassen. Mit einer weißen Fahne voran zog ein langer Zug von verängstigten Menschen nach Drossen zurück. Wir erreichten unser Haus, ohne den Russen zu begegnen. Zu Hause fand ich keine Ruhe, ich mußte meine Schwester suchen. Bei Verwandten und Nachbarn fragte ich nach, doch leider vergebens. Verstört und traurig machte ich mich auf den Heimweg, mein Großonkel begleitete mich. Es war bereits Mittag geworden und die Russen zogen laut jubelnd und grölend in Drossen ein. Ich war heilfroh, daß der Onkel mich begleitete. Es sollte allerdings das letzte Mal sein, daß ich ihn sah.

Am Nachmittag machten meine Mutter und ich uns auf den Weg zum Unglückszug. Es war ein grausiges Bild, das uns dort erwartete. Aus den zertrümmerten Fenstern hingen tote Menschen, zum Teil auch Kinder heraus. Sie waren auf der Flucht getroffen worden. Auch auf dem Feld lagen viele Leichen, dazwischen Koffer, Kinderwagen und andere Gepäckstücke - ein furchtbares Chaos. Wir liefen den Zug entlang, immer nach meiner Schwester Ausschau haltend. Wir entdeckten sie nicht mehr. Mutlos und verstört kehrten wir nach Drossen zurück. Die Frage, wo sie abgeblieben war, bewegte uns fortwährend. Der sowjetische Verband hatte inzwischen nach Westen abgedreht und versperrte für zwei Tage bei Kunersdorf die Straße Reppen-Frankfurt. Wir saßen in der Falle. Dies war der Beginn einer leidvollen Zeit.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen