© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/05 14. Oktober 2005

Im Handwagen durch Wälder
"Deutschenfreies" Niederschlesien
Bernhard Kaiser, Halle/Westfalen

Mein Geburts- und Heimatort ist das Dorf Gräbendorf, Kreis Neumarkt in Schlesien, nahe der Autobahn Berlin-Breslau gelegen. Durch einen Vorstoß der Russen auf der Autobahn in Richtung Breslau am 9. Februar 1945 gerieten wir in einen Kessel, der Fluchtweg war uns abgeschnitten. So erlebte ich die "Befreiung", als 13jähriger, hautnah.

Nach Kriegsende versuchten die Polen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Um den Alliierten in Potsdam melden zu können, die ihnen in Jalta zugesprochenen ostdeutschen Gebiete seien "deutschenfrei", kam es im Frühsommer zur Vertreibung. Die Bevölkerung wurde erst über die Autobahn, dann über Landstraßen, bis an die Neiße getrieben, und, nach ein paar Tagen, wieder zurück, denn die Besatzungsmächte hatten sich geweigert, den Elendszug aufzunehmen. In unserer Familie trug die Hauptlast meine Mutter mit ihren vier Kindern zwischen fünf und dreizehn Jahren.

In einem Handwagen wurde verstaut, was uns die "Befreier" noch gelassen hatten. Die beiden jüngsten oben drauf und der Marsch begann. Nahrungsmittel konnten, außer ein paar gekochten Kartoffeln, nicht mitgenommen werden. Kurz nach unserer Rückkehr nach Gräbendorf brach eine Typhus-Epidemie aus und der Tod hielt unter den Überlebenden nochmals reiche Ernte. Die endgültige Deportation fand dann im Juni 1946 statt. Wir wurden aufgefordert, uns auf der Dorfstraße aufzustellen, mitgenommen werden durfte das, was man tragen oder mit Handwagen transportieren konnte. Als Ziel war der zwanzig Kilometer entfernte Bahnhof Stephansdorf bei Neumarkt angegeben.

Ernähren mußte man sich wieder fast ausschließlich von Kartoffeln. Sammelpunkt war ein großes Gut in Stephansdorf, auf dem wir auch eine Nacht zubrachten. Übernachtet wurde in Scheunen oder Ställen, wir kamen in einem Hühnerstall unter. Alle Ställe waren leer, nicht ein Stück Vieh war mehr vorhanden. Am nächsten Morgen begann die Verladung. Zuvor aber wurden wir einer letzten "Kontrolle" unterzogen. In einem Stall war eine Reihe von Tischen aufgestellt, hinter jedem Tisch stand ein Pole. Man mußte seine Siebensachen auf den Tisch legen, was der Pole für wertvoll oder brauchbar hielt, fischte er heraus und warf es hinter sich, der Rest durfte mitgenommen werden. Verladen wurden wir in Viehwaggons, in jeden Wagen dreißig Personen samt Gepäck.

Die Notdurft mußten wir verrichten, wenn der Zug hielt. Da man nie wußte, wann er weiterfuhr, durfte man sich auch nicht allzuweit entfernen. Das Geschehen fand so vor aller Augen statt. Nach zwei Tagen erreichten wir Kohlfurt an der Neiße, den neuen Grenzübergang. Hier wurden wir entlaust, ob man Läuse hatte oder nicht. Ob wir etwas zu Essen hatten oder nach Krankheit wurde nicht gefragt. Nach weiteren drei Tagen im Viehwaggon kamen wir im Durchgangslager Uelzen in der Lüneburger Heide an. Hier gab es das erste Mal etwas zu Essen und hier, in den Baracken, verbrachten wir eine Nacht. Am nächsten Tag wurden wir, wieder per Bahn, in den Kreis Grafschaft Diepholz verfrachtet und bei einem Bauern eingewiesen, fünf Personen ein Zimmer. Der Empfang war alles andere als freundlich.

"Vertriebene in der Nacht", Ölkreide auf Karton: "Von Vertreibung war die Rede. Keiner glaubte so recht daran. Und wieso denn auch. Pommern lag doch mitten in Deutschland."


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